Eine hinreißende Schwindlerin
eigentlich hätte die heftige Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, mittlerweile nachlassen müssen. An diesem Abend würde er damit anfangen, ihre Macht über Ned zu brechen.
Und doch …
Er hatte geglaubt, er hätte sich ein klares Bild von Madame Esmeralda gemacht; sie richtig eingeordnet, nach Gattung und Spezies. Eine Betrügerin erster Klasse, angetrieben von Gier. Ihr Ehrgeiz wurde zweifellos noch geschürt durch eine Kindheit, in der sie sich nicht in die für sie vorgesehene Rolle gefügt hatte. Und, zum Glück für ihn, war sie genauso empfänglich wie er für die unbestrittene Leidenschaft, die zwischen ihnen schwelte.
Nachdem er das Problem also erkannt hatte, schien die Lösung nahe liegend – ihre Aufgaben mit einem Höchstmaß an Bereitwilligkeit und einem Minimum an Peinlichkeit auszuführen und somit Ned von ihrer Niedertracht zu überzeugen. Sie zu verführen, das Ganze über alle Maßen zu genießen und ihrer unglückseligen Anziehungskraft auf ihn auf so angenehme Weise wie möglich ein Ende zu bereiten.
Er sah zu ihr hinüber. Sie saß mit sittsam geschlossenen Beinen da, die sie ein wenig zur Seite geneigt hatte, um seine nicht zu berühren. Den ganzen Abend war sie seinem Blick geflissentlich ausgewichen. Ohne ein Wort zu sagen, hatte sie jedoch das Bild zerstört, das er sich von ihr gemacht hatte. Sie war zu einer Anomalie für ihn geworden. Gareths logisch denkendes Gehirn verabscheute Anomalien.
Falsch – Gareth liebte Anomalien. Eine Anomalie bedeutete, dass es ein wissenschaftliches Rätsel zu lösen galt. Sie bedeutete, dass etwas Neues unbekannter Ursache ins Spiel gekommen war, und wenn es ihm gelang, das Problem von der richtigen Perspektive her anzugehen, konnte er der erste Mensch auf der Welt werden, der dieses Rätsel zu lösen vermochte. Nein, der Wissenschaftler in ihm liebte Rätsel. Es war der Marquess in ihm, der verantwortungsbewusste Lord Blakely, der sich davor und vor den Konsequenzen fürchtete.
Denn unter diesen Umständen war es schrecklich unangebracht, irgendetwas an ihr anbetungswürdig zu finden.
Die erste Frage, die ihn brennend interessierte, war – warum ausgerechnet dieses Kleid? Ach, er begab sich offenbar in ganz neue geistige Niederungen, wenn er sich schon Gedanken über die Kleidung einer Frau machte! Gareth war kaum ein Experte in Modefragen, aber selbst er wusste, dass die Taille heutzutage modisch betont wurde, der Ausschnitt den Brustansatz freigab und die Ärmel sich aufblähen sollten wie wütende Kugelfische.
Er hatte sich schon gefreut, den Ansatz dieses bemerkenswerten Busens in einem tiefen Ausschnitt sehen zu können. Dann hätte er die Gelegenheit gehabt, einen lüsternen Blick darauf zu werfen oder die zarte weiße Haut zufällig mit der Hand zu streifen. Bei dem Kleid, das er sich vorgestellt hatte, wären solche „Versehen“ geradezu unvermeidlich gewesen.
Stattdessen war Madame Esmeraldas Kleid dunkelbraun, fast schwarz im dämmerigen Licht der Kutsche. Es war unmodisch hochgeschlossen, und die Ärmel waren fast gerade geschnitten. Keine Spitzen, keine Bänder, keine extravaganten Goldlitzen. Nichts, was ihre Figur betonte.
Ihre Kleiderwahl war gleichermaßen rätselhaft und enttäuschend. Nachdem sie an jenem Tag im Atelier so in Rage geraten war, hatte er sein Notizbuch gezückt und sich in seine wissenschaftlichen Studien vertieft. Als die Schneiderin wütend zu ihm gekommen war, hatte er sie beiseitegeschoben. Er hatte gedacht, Madame Esmeralda würde seine mangelnde Aufmerksamkeit ausnutzen; immerhin hätte sie von dem Geld, das ein einziges goldfarbenes Zierband kostete, eine ganze Woche leben können. Stattdessen musste sie einen Krieg mit der Schneiderin geführt haben, damit diese ihr ein so unschmeichelhaftes Kleid anfertigte. Und Gareth wollte wissen, aus welchem Grund.
Eine Betrügerin erster Klasse, angetrieben von Gier, hätte in den Stoff gewirkte Goldfäden verlangt und Gareth aufgetragen, Saphire zu besorgen, die die bemerkenswerte Farbe ihrer Augen betonen sollten. Alles andere hätte gar keinen Sinn ergeben.
Er hatte sie unverhohlen angestarrt, seit sie in seine Kutsche gestiegen war. Sie wiederum hatte ihn nur mit flüchtigen Blicken bedacht, die allerdings auch dann noch auf seiner Haut zu brennen schienen, nachdem sie das Gesicht längst abgewandt hatte. Dadurch, dass er die Frau geküsst hatte, hätte sie eigentlich die Oberhand gewinnen müssen, weil sie seine Schwäche für sie enthüllt hatte.
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