Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
wunderschön und erstaunlich klar. Chopin? Mozart? Nora mußte eine bemerkenswerte Anlage haben, dachte er. Aber als er um die Ecke bog und durch die Flügeltür in den Raum trat, sah er Rob an einem Stutzflügel sitzen, der für den Anlaß hereingerollt worden war. Robs Finger bewegten sich mit überirdischer Sicherheit über die Tasten, und einen Moment lang stand Harrison wie gebannt. Er dachte an Robs Bemerkung, daß er einmal für Stephen geschwärmt habe.
Das haben wir doch alle.
Fast wie in Trance suchte sich Harrison einen Platz. Daß einer von ihnen mit einem so ungeheuren Talent begabt war, rief Freude und Stolz in ihm hervor. Er war ein Stück Wegs mit dem Pianisten gegangen, mochte es noch so lange her sein, der gemeinsame Weg noch so kurz gewesen sein, der Mann heute ein ganz anderer. Aber warum hatten Nora und Rob den anderen dieses köstliche Geheimnis bisher vorenthalten? Harrison kam sich vor wie jemand, der zu einem Konzert in ein Schloß des achtzehnten Jahrhunderts geladen ist, ein Mann, dem gestattet wird, an einem Vortrag für auserwählte Gäste teilzuhaben.
Gelassen und erregt zugleich blickte Harrison sich um. Arrangements aus weißen Blumen waren von unbefangener Hand in unregelmäßiger Anordnung im Raum verteilt. Offensichtlich Noras Werk. Trotz der sechs Paar Klappstühle – drei Paar auf jeder Seite des schmalen Gangs – hatte die Bibliothek nichts von ihrer Eleganz eingebüßt. Das Licht der Deckenlampen war gedämpft, auf den Gesichtern lag flackernder Kerzenschein. Harrison entdeckte Agnes in einem blauen Kleid neben Josh, der Anzug und Krawatte trug (Neuerwerbungen von den Outlets?). Zwei Frauen, die Harrison nicht kannte – die eine jünger, die andere schon älter –, saßen in der ersten Reihe, durch den Gang von Agnes getrennt. Bridgets Mutter und Schwester? Julie, mit hochgestecktem Haar, das von einer Perlenspange gehalten wurde, hatte die Augen geschlossen, als wäre sie in der Kirche, Jerry saß mit gelsteifem Haar direkt hinter ihr.
Harrison schloß ebenfalls die Augen und wünschte, Rob würde nicht aufhören zu spielen. Er nahm sich vor, mit Evelyn und den Jungen ins nächste Konzert des Toronto Symphony Orchestra zu gehen, sobald er wieder zu Hause war. Er würde sich Robs CDs besorgen; in der Nähe seines Büros lag ein gutes Musikgeschäft. Er konnte nicht verstehen, wie er hatte zulassen können, daß so viel Schönheit einfach aus seinem Leben verschwand. Er war selbst schuld daran: zu viel Arbeit, zu viel Konsum. Er hätte seine Söhne längst mit klassischer Musik bekannt machen sollen, dachte er und fragte sich, ob es jetzt zu spät sei. Er würde ihnen von seinem Freund, einem Baseballspieler, erzählen, der ein berühmter Konzertpianist geworden war. Die CDs, magische Objekte für die Jungen, würden es schon schaffen.
Durch eine Tür auf der Seite vernahm Harrison Rascheln und gedämpfte Stimmen. Als er die Augen öffnete, sah er Bill und Bridget kommen. Von Matt und Brian gefolgt, traten sie vorn in den Raum. Einen feierlichen Zug durch den Mittelgang würde es offenbar nicht geben. Sie heirateten beide zum zweiten Mal, und die Hochzeitsgesellschaft war klein. Das Entscheidende aber war wohl, daß weder Bill noch Bridget großes Aufhebens wünschten.
Bridget, in einem pinkfarbenen Kostüm, hielt die Lippen fest aufeinandergepreßt. Ihre Haut war gerötet und ließ sie frisch und gesund wirken. Bill und die Jungen trugen Smokings, eine nette Idee, fand Harrison. Eine Frau, die Harrison nicht kannte, folgte den vieren, es mußte die Friedensrichterin sein. Das Klavierspiel klang aus. Rob lehnte sich auf dem Hocker zurück und faltete die Hände im Schoß – wie ein Organist in der Kirche.
Bill und Bridget kehrten den Gästen den Rücken und traten der Friedensrichterin gegenüber.
Wir haben uns heute hier versammelt, um gemeinsam einen der größten Augenblicke des Lebens zu feiern …
Nora setzte sich leise auf den leeren Platz neben Harrison. Sie sah ihn mit einem flüchtigen Lächeln an, Gruß und Eingeständnis einer gewissen Aufregung. Gleich würde ihr Werk – ihre Choreographie, ihre Planung, ihre geheimen Überraschungen – enthüllt werden.
»Was hat Rob da gespielt?« flüsterte Harrison.
»Händel«, antwortete Nora ebenfalls flüsternd.
Bill nahm Bridgets Hand. Matt und sein Freund, die neben dem Paar standen, wirkten leicht verwirrt, aber beeindruckend ernst und feierlich, wie es sich für den Anlaß gehörte. Bridgets Schwester
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