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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Carl Laski. Er öffnete die Augen und las das Gedicht noch einmal, als könnte er, in den Worten verborgen, weitere, noch aufschlußreichere Details aufspüren.
    Das Gedicht handelte zwar von Sexualität, aber es fehlte das Jauchzen. In der Ekstase lag schon der Keim des Verlusts. War dies der Blick in Noras Ehe, den Harrison sich erhofft hatte?
    Während er sich noch einmal die Zeilen ansah, fiel ihm ein Vorwurf ein, den Evelyn ihm bei einem Streit nach fünf oder sechs Jahren Ehe entgegengeschleudert hatte. Er sei völlig abgestorben, sagte sie. Er könne niemanden lieben. Sie meinte natürlich sich selbst, und Harrison erinnerte sich, wie sehr ihn dieser Vorwurf getroffen hatte, der ihm in der Hitze des Gefechts entgegengebracht und gleich am Abend wieder zurückgenommen worden war. Denn er wußte, daß etwas, was er für unverwüstlich gehalten hatte – seine Ehe –, nun vielleicht aller möglichen Kritik unterzogen würde, als wäre die Jagdsaison eröffnet. Nachdem Evelyn aus dem Schlafzimmer gelaufen war, hatte er sich aufs Bett gelegt und sich gefragt, ob sie recht hatte. War ihm an irgendeinem Punkt die Fähigkeit verlorengegangen, andere zu lieben? Aber dann hatte er sich gesagt, daß auch seine Söhne »andere« waren und er sie ohne Zweifel liebte, und diese Erkenntnis hatte ihn ungeheuer beruhigt. Er hatte sich gerechtfertigt gefühlt und sich beinahe mit einem Gefühl des Triumphs aufgesetzt.
    Harrison schloß das Buch. Er konnte es nicht ausleihen. Er hatte keinen Bibliotheksausweis und keine Möglichkeit, sich einen zu besorgen. Er vermutete jedoch, daß die Buchhandlung den Band vorrätig hätte. Der Ort war schließlich so etwas wie ein Mekka der Laski-Verehrer.
    Harrison verließ die Bibliothek und ging über die Straße zur Buchhandlung. Als er die Tür öffnete, sah ein blasser junger Mann mit hellbraunem Schnurrbart ihm entgegen. Harrison lächelte, und der junge Mann nickte. Harrison gab sich nicht wie sonst seiner Gewohnheit hin, in den Regalen nach Büchern aus seinem Verlag zu suchen und sie nach vorn zu stellen, denn in diesem amerikanischen Laden würde es gar keine Bücher aus seinem Haus geben. Es war ein sehr kleiner Laden, der kaum zwei frei stehenden Regalen Platz bot. Harrison fand die Lyrik-Abteilung (ein halbes Bord) und kaufte Laskis letzten Band. Auf dem Rückweg zum Wagen machte er noch eine Pause, trank eine Tasse Kaffee und las dabei mehrere Gedichte aus dem Buch. Dann tankte er und fuhr wieder zum Gasthof.
    Er lungerte eine Weile im Vestibül herum, weil er hoffte, Nora zu sehen, aber sie ließ sich nicht blicken. Sie hatte sich wahrscheinlich in ihre Zimmer zurückgezogen, dachte er, als er die Treppe hinaufging. Er stellte sie sich bei einem Bad in dieser üppigen Wanne mit der Marmorumrandung vor, das Wasser schwach grünlich getönt von den Ölen aus den antiken Glasflakons.
    Harrison fuhr jäh aus dem Schlaf und war einen Moment ohne Orientierung. Wo war er? Wie spät war es? Er schaute auf die Uhr auf dem Nachttisch und sah, daß er verschlafen hatte. Hastig setzte er sich auf. Er mußte zu einer Trauung. Nach einer kurzen Dusche kleidete er sich an.
    Er zog den neuen Anzug an, eigens für die Gelegenheit gekauft. Wann war er das letzte Mal auf einer Hochzeit gewesen? Vor fünf, sechs Jahren, schätzte er. Auf der zweiten seiner Schwester. Ja, so war es wohl. An eine Trauung jüngeren Datums konnte er sich nicht erinnern. Er dachte an das Foto von Nora und Carl Laski an ihrem Hochzeitstag, wie jung und verletzlich Nora ausgesehen hatte, wie gern er seine Hand zwischen die Braut und den Bräutigam geschoben hätte.
    The narrow thigh; the asymmetrical smile.
    Harrison strich sein Haar zurück und wünschte, es wäre voller. Um Bills willen hoffte er, es würde eine stilvolle Trauung werden und eine festliche Feier. Die beiden hatten einen harten Weg vor sich.
    Er nahm seine Brieftasche und den Zimmerschlüssel aus der Hose, die er vorher angehabt hatte, und steckte beides ein. Als er an sich hinunterblickte, stellte er fest, daß seine Schuhe geputzt werden mußten. Im Bad gab es sogar einen Schuhputzkasten, er stellte erst den einen, dann den anderen Fuß auf die Querleiste des Schreibtischstuhls und polierte die Schuhspitzen. Er wusch sich die Hände und trocknete sie an einem Handtuch ab. Mit einem letzten Blick durch das Zimmer öffnete er die Tür, machte das Licht aus und ging hinaus.
    Noch bevor er die Bibliothek erreichte, hörte er die Musik, Klavier,

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