Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Postamt, eine Buchhandlung, die verheißungsvoll aussah, eine Grundschule, die Ähnlichkeit mit einer Fabrik hatte, und zwei Gasthöfe, die er, für Nora Partei ergreifend, mit dem Blick des Konkurrenten musterte. Der erste war ein Haus in kitschig viktorianischem Stil, das zum Frühstück »Soviel Sie essen können« versprach. Das zweite war eine bescheidene Frühstückspension, unglücklich neben einer Mobil-Tankstelle plaziert.
Harrison stellte den Ford in der Hauptstraße ab und ging los, Hände in den Taschen, schmelzenden Schnee in den Turnschuhen. Er brauchte ein Paar trockene Socken. Er kam an einem merkwürdigen Gebäude vorüber und sah sich das Schild auf der Vorderveranda an. Es war die Städtische Bibliothek, der Heilige Gral seines Gewerbes. Nein, stimmt nicht, dachte Harrison, der wahre Gral war ja doch die Buchhandlung, wo verkauft und Gewinn gemacht wurde. Die Bibliothek, ein weiträumiger gelber viktorianischer Bau mit Türmchen und steinernen Säulen, war eine Kuriosität. Er vermutete, daß das Haus in früherer Zeit das Heim eines wohlhabenden Bürgers gewesen war – des Arztes vielleicht oder eines Richters. Als er die Treppe hinaufstieg, versuchte er, sich Carl Laski hier vorzustellen; oder wie er in die Buchhandlung ging; oder auf dem Weg ins College anhielt, um sich noch schnell einen Doughnut zu holen. Hätte Nora ihn begleitet?
In der Bibliothek suchte Harrison die Lyrik-Abteilung. Er hoffte, ein Exemplar von Laskis letztem Buch Burning Trees zu finden. In der Bibliothek war es ruhig an diesem späten Samstagvormittag. Nur wenige Besucher saßen an Computern oder, in Zeitungen vertieft, im Lesesaal. Harrison mochte seit jeher die ehrfürchtige Stille in öffentlichen Bibliotheken, die antiquierte Vorstellung, daß der Geist nur in der Stille Wörter aufnehmen könne.
Er sah die beiden Regale mit Lyrik durch (zwei von fünfhundert? Oder tausend?) und fragte sich nicht zum erstenmal, wieso er sich einem so unrentablen Geschäft wie der Veröffentlichung literarischer Texte verschrieben hatte. Und dann auch noch Autoren, die am wenigsten Geld einbrachten. Bisher hatte Harrison ein halbes Dutzend Dichterbiographien und zwei schmale Lyrikbändchen herausgebracht: das eine von dem amerikanischen Lyriker Audr Heinrich, ein Wagnis, das dem Autor und Harrisons Verlag beträchtliches Ansehen eingetragen hatte, das andere von der persisch-kanadischen Lyrikerin Vashti Baker, ein Werk, das praktisch in der Versenkung verschwunden war. Aber auf diese Bücher war Harrison stolz. Auf jeden Fall stolzer als auf die verschiedenen Ratgeber und Thriller, die er hatte herausbringen müssen, um dafür zu sorgen, daß das Unternehmen nicht in die roten Zahlen rutschte.
Harrison zog den Laski-Band heraus und setzte sich an einen Lesetisch aus glänzendem Kirschholz. Er schlug das Buch auf. Er kannte das Werk des Mannes als fesselnd und täuschend einfach geschrieben. Auf der Suche nach Gedichten über Frauen blätterte er den Band durch. Er hoffte, obwohl ihm das bis zu diesem Moment nicht bewußt gewesen war, in den Versen Hinweise auf Nora zu finden. Die Wendung »wet with water« fiel ihm ins Auge. Er las das Gedicht. Es handelte von einer Frau, die sich die Haare wäscht, während ein Mann ihr dabei zusieht und darüber nachdenkt, wie sein Sohn der eigenen Frau beim Haarewaschen zusieht.
Harrison blätterte langsam eine Seite nach der anderen auf, überflog den Satz, suchte nach Schlüsselwörtern und – zeilen. Mit dieser Methode zu arbeiten hatte er als Lektor gelernt. So konnte er innerhalb von Sekunden einen ersten Hinweis finden. Noch einmal las er den Band quer, fing diesmal von hinten an. Er bemerkte das Wort »Zunge«. Er drückte das Buch auf dem Tisch flach.
Das Gedicht trug den Titel Under the Canted Roof und ging mit drastischer Anschaulichkeit in sexuelle Details, weit mehr als Laskis andere Werke. Man hatte das Gefühl, eine Reportage zu lesen. Harrison hatte zwar Laskis letzte Sammlung nicht gelesen, aber das Gedicht schien ihm in eine neue Richtung zu weisen. Die Frau in dem Text war blond, aber für Harrison gab es keinen Zweifel, daß Laski sich auf Nora bezog. The narrow thigh;the asymmetrical smile. Er dachte an Noras drolliges Halblächeln.
Er schloß die Augen, und eine Art voyeuristischer Eifersucht quälte ihn. Er hatte es einzig sich selbst zuzuschreiben. Genau das hatte er doch unbewußt gesucht, als er in die Bibliothek gekommen war, Intimitäten über die Ehe von Nora und
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