Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
wäre auch irritiert gewesen. Worum ging es in dem Roman?«
    »Keine Ahnung.« Nora zog den Mantel enger um sich. »Ich habe das Manuskript an dem Tag das erste Mal gesehen, als Carl mir sagte, wo es lag. Ich habe es gar nicht aus dem Karton genommen. Ich mußte es im offenen Kamin im Wohnzimmer verbrennen. Er hat von einem Sessel aus die Aufsicht geführt. Er hat seine Texte immer streng geheimgehalten. Solange er daran schrieb, meine ich.«
    Harrison schob seine Hände in die Taschen seiner Jacke und scharrte mit einer Schuhspitze im Schnee.
    »Das hat dich wirklich überrascht, hm?« fragte sie. »Du bist sprachlos.«
    »Ich mußte gerade an Richard Francis Burton denken, den Forscher. Seine Frau hat nach seinem Tod alle seine pornographischen Schriften verbrannt.« Harrison hielt inne. »Das ist wohl das Vorrecht der Witwe? Das Bild ihres Mannes zu schützen?«
    »Möglich«, sagte Nora mit einem Blick auf ihre Uhr. »Aber in Carls Fall hat der Autor sich selbst geschützt. Ich muß gehen.«
    »Noch nicht«, flehte Harrison mit gespielter Verzweiflung und breitete die Arme aus. »Immer verläßt du mich.«
    Es war als Scherz gemeint, aber einmal ausgesprochen, klang es unangenehm wahr.
    »Ich sehe dich später?« fragte sie, und Harrison spürte einen kleinen Stich in der Brust. Sie ging ein paar Schritte rückwärts und winkte ihm zu.
    »Auf jeden Fall«, sagte er.
    Er sah sie schnell die vordere Treppe hinauflaufen, dann verschwand sie im Haus. Als er sich umdrehte, blickte er direkt in Jerry Leydens Gesicht.
    »Man merkt doch immer, wenn die Liebe nicht gestorben ist«, sagte Jerry.
    »Was?« fragte Harrison. Jerry lief die Nase. Seine Zähne hatten den bläulichen Schimmer des allzu Weißen.
    »Ich habe mal meine alte Freundin an der Kidd bei Google eingegeben, Dawn Freeman, weißt du noch? Sie züchtet jetzt Schafe in Idaho. Mann, bin ich froh, daß ich da nicht bin.«
    Harrison wünschte, Jerry würde einen Schritt zurücktreten. Sein Atem stank nach abgestandenem Kaffee.
    »Hey«, sagte Jerry, »ich wollte dich gestern abend nicht in die Pfanne hauen. Mit Stephen, meine ich. Ich weiß, daß du den Kerl echt gern hattest.«
    Harrison sagte nichts.
    »Man hat nur so das Gefühl, daß wir alle ungestraft davongekommen sind, du weißt, was ich meine?«
    Harrison hatte die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt. Er hatte Mühe, nicht zuzuschlagen. »Du bist ein Arschloch, Leyden«, sagte er verkniffen und wandte sich ab, um zu gehen.
    »Mensch, warte doch mal!« Jerry hielt ihn am Ärmel seiner Jacke fest. Harrison blickte auf Jerrys Finger. Jerry ließ los, und Harrison hob den Kopf, um ihn anzusehen.
    »Hör zu«, sagte Jerry, »ich weiß nicht, was an dem Abend am Strand passiert ist. Ich hab ein paar Spitzen auf dich losgelassen und weiß eigentlich gar nicht, warum. Mal ganz ehrlich, ich glaube, ich bin auf mich selbst wütend. An dem Abend, als ich ins Wohnheim zurückkehrte und hörte, daß Stephen verschwunden ist, habe ich mich so – ach, ich weiß auch nicht, wie ich mich gefühlt habe …« Jerry starrte einen Moment den Hang hinunter, ehe er den Blick wieder auf Harrison richtete. »Hilflos«, sagte er. »Stephen war tot, ehe wir richtig wußten, was los war, und wir – wir waren alle lebendig. Richtig lebendig .« Jerry riß seine Handschuhe herunter. »Am elften September war’s genauso. Da stürzten alle diese Menschen herunter, und ich stand da und war lebendig. Ich kann das nicht beschreiben. Man fühlt sich hundeelend – und schuldig. Man ist wütend, klar. Aber das wirklich Schreckliche ist die Hilflosigkeit. Ich hasse es, mich hilflos zu fühlen.«
    Harrison holte tief Atem, und Jerry stopfte seine Handschuhe in seine Taschen.
    »Stephen war ein feiner Kerl«, sagte Jerry.
    Harrison setzte sich ans Steuer und brauste vom Parklatz. Er hatte kein Ziel, nur das Verlangen, den Wagen vorwärtszujagen, ihn ein Geräusch machen zu lassen.
    Die lange Auffahrt zum Gasthof war geräumt, aber Harrison merkte ziemlich schnell, daß er langsamer fahren mußte. Er wollte nicht wegen Jerry Leyden oder Stephen Otis oder irgendeiner anderen Person aus der Vergangenheit in den Bäumen an der Auffahrt landen.
    Er verbannte Jerrys Gesicht und seine Stimme aus den Gedanken. Er bog in die Straße ein, rutschte in der Kurve ein wenig und schlug die Richtung zum Ort ein. Auf der Fahrt zum Gasthof am Vortag hatte er nach Hinweisschildern gesucht und dem Dorf kaum Beachtung geschenkt. Diesmal bemerkte er ein

Weitere Kostenlose Bücher