Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Männer noch zu einem letzten Drink in die Bibliothek gehen, Harrison hatte nicht die Absicht, sie zu begleiten.
Er stieß die Tür am anderen Ende des Raums auf, die Tür, durch die Nora verschwunden war, und gelangte, nicht unerwartet, in die Küche. Judy, die von einer kleinen Sammlung nicht zusammenpassender Sahnekännchen aufsah, schien überrascht.
»Wo ist Nora?« fragte Harrison ohne Umschweife.
»Keine Ahnung«, antwortete Judy, vielleicht pikiert von Harrisons Schroffheit.
»Sie ist aber hier hereingegangen«, beharrte Harrison.
»Und wieder hinausgegangen«, sagte Judy.
Das Jackett über der Schulter, suchte Harrison in den Gasträumen – der Bibliothek, dem Salon, einem weiteren Raum, in dem offenbar ebenfalls eine Hochzeit gefeiert wurde –, aber er fand Nora nicht. Es war natürlich möglich, daß sie aneinander vorbeigelaufen waren und sie sich in einem der Räume befand, in denen er eben nach ihr gesehen hatte, aber er ließ es darauf ankommen und nahm den Weg zu dem langen Flur, der zu Noras Privaträumen führte. Als er um die Ecke bog, sah er, daß Noras Tür halb geöffnet war, als wäre sie nur schnell zu ihrem Schreibtisch gelaufen, um eine Liste oder eine Rechnung zu holen.
Er stieß die Tür weiter auf. Nora saß in einem Sessel mit Blick zu der Flügeltür, die zu ihrer Veranda hinausführte.
Harrison warf sein Jackett auf das Fußende des Betts.
»Du wolltest eine Geschichte hören?« Seine Frage war brüsk, eine rhetorische Frage.
Nora sagte nichts.
»Also gut«, fuhr er fort, ohne sich von ihrem Schweigen beirren zu lassen. »Ich erzähle dir eine Geschichte.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, stellte er sich vor Nora auf, Zorn in Haltung und Stimme. Aber schon nach wenigen Sekunden konnte er sie nicht mehr ansehen, wie sie da mit übergeschlagenen Beinen vor ihm saß, die Stola unter ihrem Hals zusammengehalten, und auf die Rechtecke aus Glas starrte. Er kehrte ihr den Rücken und ging zur Flügeltür. Im dunklen Glas konnte er gerade noch ihre Gesichtszüge ausmachen.
»Ich überspringe die Zeit«, begann Harrison, »als ich, beinahe von Beginn meines vorletzten Schuljahrs bis fast zum Schluß meines letzten, dieses Mädchen, in das ich seit dem schicksalhaften Tag im Oktober unsterblich verliebt war, zunächst aus der Ferne und dann, nachdem ich zu meiner Überraschung entdeckt hatte, daß sie die Freundin meines vermeintlich besten Freundes Stephen Otis war, aus der Nähe beobachtete.«
Harrison hielt inne.
»›Verliebt‹ ist eigentlich in diesem Fall nicht ganz zutreffend«, fuhr er fort. »Ich könnte sagen, ich habe dieses Mädchen ›geliebt‹. Du würdest das anzweifeln, weil du meinst, um von Liebe sprechen zu können, müsse wenigstens der Ansatz einer Beziehung vorhanden sein. Aber da das meine Geschichte ist, schlage ich vor, wir lassen die Wortklaubereien und verlassen uns einfach darauf, daß ich dieses Mädchen geliebt habe, zuerst aus der Ferne und dann aus nächster Nähe, auch wenn sie unerreichbar blieb, da sie, wie ich bereits sagte, die Freundin – die große Liebe? – meines Zimmergenossen war.«
Harrison verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir lassen diesen Teil also einfach aus und kommen gleich zu dem Abend am Strand, einem Samstagabend im Mai, wenn ich mich recht erinnere. Das Wasser hatte vielleicht vier bis fünf Grad, bei so einer Temperatur stirbt ein Mensch in weniger als dreißig Minuten. Die Lufttemperatur war nicht höher als sieben Grad, wenn man den Windchill-Faktor berücksichtigt. Ist soweit alles klar?«
»Harrison!«
»Ich bin also auf dieser Fete in einem Strandhaus, das eigentlich einer Familie Binder aus Boston gehört. Da die das Haus aber nur im Sommer nutzt, nehmen es die privilegierten Schüler der Kidd Academy für sich in Anspruch, ohne sich auch nur das geringste dabei zu denken, in ein vorübergehend leerstehendes Haus einzubrechen. Zu erwähnen wäre noch, daß dieses Haus circa zwei Kilometer vom Internat entfernt war, ein Detail, das später eine gewisse Bedeutung gewinnen wird.«
Harrison hatte seit Jahren nicht mehr an dieses Detail gedacht.
»Laß mich überlegen«, fuhr er fort, »wer war außer mir noch auf dieser Fete? Bei der übrigens der Alkohol in Strömen floß, dank Frankie Forbes, der zwei Tage vorher aufmerksamerweise zehn Kästen Budweiser, Wein in Mengen und, für die richtigen Trinker unter uns, mehrere Flaschen Jack Daniels im Strandhaus vorbeigebracht hatte.« Harrison hielt inne.
Weitere Kostenlose Bücher