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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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sie nicht am Wasserhahn, sondern auf dem nicht gerade pieksauberen Boden sitzend, die Arme schützend über dem Kopf. Ein Mädchen in Not. Eindeutig.«
    Harrison erinnerte sich, wie Nora in der Ecke gekauert hatte gleich einem kleinen Tier, das sich in seinen Bau geflüchtet hat.
    »Ich hocke mich vor ihr nieder«, sagte er, »und frage, was los ist, obwohl ich es schon weiß, da ich sie ja den ganzen Abend beobachtet habe und ein ebenso scharfer Menschenbeobachter bin wie unser Jerry und unser Rob. Ich helfe dem armen Ding auf. Und wie das manchmal unter Siebzehnjährigen vorkommt, verwandelt sich eine tröstende Umarmung in etwas Leidenschaftlicheres, das zumindest bei dem Jungen reine Verzückung hervorruft.
    Und bei dem Mädchen? Wer kann das sagen? Am liebsten wäre einem natürlich ein ähnliches Gefühl der Verzückung. Die langen, leidenschaftlichen Küsse lassen immerhin auf starke Gefühle bei dem Mädchen schließen – vielleicht sogar auf Erleichterung? War sie erleichtert? Ich glaube schon. Im Rausch dieser Umarmung jedenfalls rutscht die Hand des Mädchens unter mein Hemd und bleibt knapp über meiner Taille liegen. Ich habe dieses eine Detail mein Leben lang nicht vergessen. Stell dir das mal vor. Siebenundzwanzig Jahre lang habe ich immer an dieses eine kleine Detail gedacht.«
    »Ich will das nicht hören«, sagte Nora.
    »Irgendwie haben wir uns gedreht, das Mädchen und ich«, fuhr Harrison fort, ohne ihren Einwand zu beachten.
    »Ich hatte die Metallkante der Arbeitsplatte im Rücken und war außer mir vor Glück darüber, dieses Mädchen in den Armen zu halten, das ich seit Monaten anbetete. Dieses Mädchen, das zugegebenermaßen nicht mir gehört – wenn man überhaupt sagen kann, daß ein Mensch einem anderen gehört –, sich mir aber mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit hingibt. Es ist darum vielleicht verzeihlich, daß ich glaubte, dieses Mädchen empfände das gleiche wie ich: daß wir einander endlich gefunden hatten, wenn auch auf Umwegen, auf nicht ganz unschuldigen Umwegen.«
    Harrison hielt inne. Er wollte diesen Moment noch nicht loslassen, den er in aller Unmittelbarkeit spürte und dem in den vielen Jahren danach an Intensität nichts mehr nahe gekommen war.
    Nora hob die Hand vor die Augen.
    »Aber für gestohlenes Glück«, fuhr Harrison schließlich fort, »muß man bezahlen. Und so kam denn auch plötzlich Stephen Otis in die Küche gestolpert, und trotz seines Zustands konnte er nicht übersehen, daß sein Zimmergenosse und seine Freundin in leidenschaftlicher Umarmung vereint waren.«
    Harrison erinnerte sich an Stephens Gesicht, den Ausdruck der Ungläubigkeit, an seine eigenen hämmernden Schuldgefühle.
    »Wir hätten in diesem Augenblick auseinanderfahren können«, sagte Harrison, »aber das Mädchen entfernte sich keinen Schritt von mir, sie tat nichts, und dafür werde ich ihr immer dankbar sein. Auch wenn, rückblickend, dieses Nichtstun uns beiden vielleicht hätte zu denken geben müssen, denn mit dem Verweilen in der Umarmung, mit der fehlenden Bereitschaft, uns voneinander zu lösen, wurde ein Ausrufezeichen aus dem Fragezeichen hinter Stephens Ausruf der Überraschung, der, soweit ich mich erinnere, etwa: Was, zur Hölle lautete.«
    Er lautete, wie Harrison sich erinnerte, wörtlich: Was, zur Hölle .
    »Das Mädchen sagte nichts, und ich sagte auch nichts«, fuhr Harrison fort. »Wenn man bedenkt, wie leicht es zu einer Katastrophe hätte kommen können, halte ich das heute für eine Demonstration ungewöhnlicher Gefaßtheit. Wer weiß denn schon, wozu ein Betrunkener fähig ist, wenn ihm jemand in die Quere kommt, wenn er sich verraten fühlt? Zeitungen und Fernsehshows sind voll von einschlägigen Geschichten. Das Mädchen ließ uns allein. Als sie ging, ließ sie ihre Hand über meinen Arm gleiten, ein deutliches Versprechen auf eine Zukunft. Eine Geste, die mich glücklich, vielleicht sogar tollkühn machte. Ich lehnte mich an die Arbeitsplatte, die Arme auf das Resopal gestützt, und wartete auf den Faustschlag oder mindestens einen Speichelstrahl. Stephen, der betrunken nie sehr beredt war, sagte nur: Du Scheißkerl , hob die kantige Flasche, nicht zum Schlag gegen mich, sondern an seinen Mund, und trank in beeindruckenden Zügen – ja, ich erinnere mich, daß ich beeindruckt war. Dann torkelte er davon.
    Ich war – ich weiß auch nicht. In Hochstimmung? Nüchtern? Erleichtert? In einem erotischen Delirium? Ich mußte das Mädchen finden, sie wieder

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