Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
»Tja, der gute alte Frankie Forbes. Hochgeschätzter Freund unserer Klasse. Was wäre ohne ihn aus uns geworden.«
Und was, dachte Harrison, war wohl aus Forbes geworden? Ein Trinker? Nein, dazu war er zu gerissen gewesen. Forbes hatte wahrscheinlich irgendwo an der Küste von Maine ein Haus, das er sich mit dem Gewinn aus seinen Geschäften mit den willigen Kidd-Schülern gekauft hatte.
»Also, wer ist alles auf der Fete?« wiederholte Harrison. »Jerry Leyden, der auf allen Partys dabei ist, nicht weil er besonders gern trinkt, sondern weil er das menschliche Verhalten studiert. Er beobachtet, um dann aus dem Beobachteten seine Schlüsse zu ziehen. Die so gewonnenen Erkenntnisse sammelt er und präsentiert sie bei Gelegenheit entweder zum Spaß oder zur Förderung des eigenen Fortkommens. Aus Jerry wäre ein toller Spion geworden, aber er hat seine außergewöhnlichen Talente lieber im Geschäftsleben eingesetzt und sich mit seinen eigenwilligen Methoden bis zur Spitze einer Lebensmittelkette in New York hinaufgehandelt, da kann man nur den Hut ziehen. Jerry ist mit seiner Freundin Dawn da, die, wie ich hörte, heute in Idaho Schafe züchtet. Wer noch? Rob Zoar, der sich zu dieser Zeit zweifellos seiner sexuellen Neigungen bewußt ist, aber noch nicht bereit, sich öffentlich dazu zu bekennen. 1974 waren wir ja noch gut zwanzig Jahre von Schwulenklubs an High Schools entfernt. Rob, der typische ›gute Kerl‹, ist leicht betrunken vom Bier – sagen wir, beschwipst –, auch er ist so etwas wie ein Beobachter menschlichen Verhaltens, wenn auch nicht wie Jerry Leyden aus Berechnung. Es gibt noch keinen Josh in Robs Leben, aber vielleicht – wer weiß? – war da ein Junge im zweiten Jahr? ein Lehrer?, vielfältig wie die menschliche Natur nun einmal ist.
Es sind vielleicht noch fünfzehn andere – nein, mindestens zwanzig – auf der Party, die mittlerweile die Halbzeit überschritten hat, die Dauer derartiger gesellschaftlicher Veranstaltungen wird nämlich von der Sperrstunde an der Schule bestimmt. Wir müssen spätestens um dreiviertel elf Schluß machen, wenn wir noch ins Wohnheim zurücksprinten und rechtzeitig um elf in unseren Zimmern sein wollen. Weißt du noch, Nora?«
»Harrison, warum tust du das?«
»Du weißt doch, ich erzähle dir eine Geschichte«, sagte er zu ihrem Spiegelbild im Glas. »Meine Geschichte hat auch eine Handlung, keine schöne allerdings. Ich komme noch darauf. Jetzt wollte ich erst einmal rekapitulieren, wer alles da war. Bill und Bridget knutschen in einer Ecke. Agnes O’Connor sitzt auf dem Sofa und redet mit Artie Cohen über – hm, laß mal sehen – den Vietnamkrieg? Es sind noch jede Menge andere Leute da, aber vieles ist verschwommen, weil ich zu dem Zeitpunkt schon ganz schön angesäuselt war. Aber nicht so betrunken wie andere. Nicht so high wie andere. Nein, ich war zwar ziemlich blau, aber lange nicht so hinüber wie Stephen, der vielleicht THC mit Jack Daniels kombiniert hatte. Daher die blutunterlaufenen Augen, der unsichere Gang, die nassen Küsse. Ja, die habe ich gesehen, Nora. Und vergessen wir auf keinen Fall dieses unglaublich hinreißende Lachen, das so heiter und ansteckend war und die ganze immer lauter werdende Symphonie übertönte wie eine überdrehte Piccoloflöte.«
»Jetzt bist du jedenfalls betrunken«, sagte Nora.
»Glaubst du?« Harrison drehte sich kurz zu ihr um. »Aber glücklich bin ich nicht dabei, das kannst du mir glauben. Kein bißchen.«
Er wandte sich wieder den Fenstern zu. Einen Teil seiner steifen Abwehr aufgebend, ließ er die Arme sinken. Er schob die Hände in die Hosentaschen und betrachtete sich im Glas der Flügeltür. Ein zweigeteilter Mensch.
»Auf dieser Fete ist auch das besagte Mädchen«, fuhr er fort. »Und ich, ein Siebzehnjähriger, der ein schönes, aber unerreichbares Mädchen liebt – ja, zum Teufel, benutzen wir ruhig dieses Wort –, das, wenn ich das mal sagen darf, über Stephen ziemlich verärgert zu sein scheint, vielleicht weil er so betrunken ist, aber mehr noch, denke ich, wegen seiner derben, besitzergreifenden Art – die theatralisch feuchten Küsse, die demonstrativen Aufforderungen zum Rückzug in eines der muffig-feuchten Schlafzimmer –, ich folge also diesem Mädchen, als sie in die Küche geht, anscheinend um sich ein Glas Wasser zu holen, in Wirklichkeit aber, denke ich, um allein zu sein. So eine Chance kann unser Held – also ich – natürlich nicht ungenutzt lassen. Ich finde
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