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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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berühren. Ihr sagen, daß ich sie liebte, es schien mir das Dringendste zu sein, was ich je zu erledigen hatte. Ich machte mich also auf die Suche. Lief auf die Veranda hinaus. Keine Nora. Dann zurück durch die verwahrlosten Zimmer dieses Strandhauses, das mehr Ähnlichkeit mit einem Hühnerstall hatte. Auch hier keine Nora. War sie ins Wohnheim zurückgekehrt? Das wäre natürlich vernünftig gewesen, aber ein langweiliges Ende für meine Geschichte.«
    Harrison blickte zu Boden. Er zögerte vor dem kommenden Teil der Geschichte, dem einzigen, der wirklich zählte.
    »Ich bin also wieder auf die Veranda gegangen. Und da war zu meinem Entsetzen Stephen, den ich nun ganz gewiß nicht suchte. Er schwankte und, ich konnte es kaum glauben, er weinte .«
    »Bitte, Harrison«, sagte Nora.
    »Er sagte – ich zitiere – O Mann, o Scheiße. Mehrmals. Er wußte nicht, daß ich da war. Ich dachte, er wäre fertig, weil er das Mädchen und mich in der Küche überrascht hatte, und er tat mir leid. Ich sagte etwas. Irgend etwas. Vielleicht nur seinen Namen. Stephen . Er drehte sich um und sah mich. Ich ließ die möglicherweise gefährliche leere Flasche in seiner Hand nicht aus den Augen. Er sagte: Scheiße, ich kann da nicht wieder rein. «
    Harrison hielt inne.
    »Als ich auf ihn zugehen wollte, schrie er: Hau ab!, und wich vor mir zurück.«
    Harrison schwieg einen Moment, bevor er das eine preisgab, wovon er nie jemandem erzählt hatte. Aber er war jetzt bei Nora, um es zu tun, um diese Geschichte zu erzählen, zu der diese eine schreckliche Tatsache gehörte.
    »Da habe ich es gerochen«, sagte er schnell.
    Nora bedeckte ihre Augen mit den Händen.
    » Ich hab in die Hose geschissen, Mann , sagte Stephen.«
    Nora stand mit einer einzigen schnellen Bewegung aus dem Sessel auf und ging zum Bett. Sie setzte sich auf den Rand.
    »Das war ein Phänomen, von dem ich bis dahin nur gehört hatte«, sagte Harrison. »Von dieser extremen Auswirkung der Trunkenheit. Ich war so entsetzt und fand die Situation so beschämend, daß ich keinen Ton herausbrachte. Ich glaube, ich stand da wie zur Salzsäule erstarrt.
    Ich geh jetzt ins Wasser , rief Stephen weinend. Und wasch meine Hose aus. Organisier du mir was zum Anziehen. Stiehl was aus den Schränken hier. Irgendwas. «
    Harrison sah Nora an.
    »Stephen«, fuhr er dann fort, »ging zur Verandatreppe, die zum Strand führte. Nein, Stephen, nicht , sagte ich.
    Was denn? fragte er. Was denn?«
    Harrison preßte die Lippen zusammen und starrte zur Decke hinauf, als er sich wieder erinnerte.
    »Das Meer war nicht stürmisch, aber es war auch nicht völlig ruhig. Die Wellen hatten weiße Kronen. Was sollte ich tun? Mal ganz realistisch gesprochen. Stephen mußte sich waschen. Er konnte das niemanden sehen lassen. Es war doch besser, den anderen vorzumachen, daß er kurz ins Wasser tauchen wollte, um wieder nüchtern zu werden, als sie wissen zu lassen, was wirklich los war.«
    Harrison holte tief Atem.
    »Ich wollte mit ihm die Treppe hinuntergehen, aber er drehte sich um und schrie mich an, ich solle bleiben, wo ich war. Er weinte immer noch.«
    Harrison hörte selbst, wie gepreßt seine Stimme klang.
    »Es war an diesem Abend nicht sehr hell, und ich konnte ihn kaum erkennen, als er zum Strand hinunterging. Er lief stolpernd zum Wasser und watete bis zu den Knien hinein.«
    Harrison schluckte mühsam. »Ich hätte ihm helfen können. Ich hätte ihm meine Hose geben und in meiner Boxershorts zur Schule zurückrennen und mich ins Wohnheim schleichen können.«
    Zum tausendstenmal fragte sich Harrison, warum er das nicht getan hatte.
    »Stephen verlor das Gleichgewicht und setzte sich in den Sand. Er ließ das Wasser über seine Beine spülen. Ich konnte erkennen, wie er sich abmühte, seinen Gürtel aufzumachen.«
    »Harrison«, sagte Nora, und er wappnete sich, um die Geschichte bis zum Ende zu erzählen.
    »Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch«, fuhr er fort. »Eine Tür wurde geöffnet. Ich drehte mich um. Es war Jerry Leyden. Auf der Suche nach mir. Oder nach Stephen. Was in der Küche passiert war, hatte sich schon herumgesprochen wie das sprichwörtliche Lauffeuer, und der gute Jerry mit seinem heftigen Interesse an allem Menschlichen wollte natürlich einen der Protagonisten verhören.«
    Harrison hatte Jerrys Gesicht noch genau in Erinnerung, wie Jerry versucht hatte, an ihm vorbei zum Wasser hinunter zu sehen, und er ihn durch die Tür ins Haus zurückgedrängt

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