Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
war. Harrison sah Evelyn, wie sie ein Nachthemd von ihren Schultern streifte, und er schob das Bild – diese Parallelgeschichte – aus seinen Gedanken, ein bewußter Akt des Verrats. Und einmal verbannt, war Evelyn auf Dauer verschwunden, wobei die Dauer noch unbestimmt war. Eine Stunde vielleicht. Vielleicht eine Nacht. Möglicherweise ein ganzes Leben. Wenn auch das Wort selbst, »Dauer«, nicht nur diesen wunderbaren Anfang barg, sondern auch, am fernen Horizont, ein zwangsläufiges Ende.
VOR DER TRAUUNG hatte Bridget das in Seidenpapier gehüllte Nachthemd herausgelegt, um es zur Hand zu haben, wenn sie und Bill in die Suite zurückkehrten. Sie schloß die Badezimmertür und überließ es Bill, die Kerze neben dem Bett anzuzünden. Der lange Tag des Wartens und die Trauungsfeier selbst (für Bill außerdem der freudige Schock über Melissas unerwartetes Erscheinen), dazu das dramatische Finale, das Agnes ihnen mit ihrem überraschenden Geständnis bereitet hatte, das alles hatte Kraft gekostet, und sie waren erschöpft. Aber Bridget wußte, daß Bill nicht einschlafen würde, solange sie nicht bei ihm im Bett war. Es war schließlich ihre Hochzeitsnacht.
Sie dachte kurz darüber nach, wie Matt, Brian und Melissa wohl beim Poolspielen zurechtgekommen waren. Sie und Bill hatten sich mit Versicherungen, daß man sich am Morgen zu einem Abschiedsfrühstück sehen würde, kurz nach Agnes’ Abgang zurückgezogen. Zu der Zeit waren nur noch Jerry, Rob, Josh und Harrison im Haus gewesen, Bridget wußte nicht, ob die Männer in die Bibliothek hinübergegangen waren, um noch etwas zu trinken. Sie neigte eher dazu zu glauben, daß sie in ihre Zimmer zurückgekehrt waren und über die unerforschlichen Tiefen ihrer Mitmenschen nachdachten.
Bridget sah rasch in den Spiegel. Sie nahm die Perücke ab, schüttelte sie ein wenig, um das Haar zu lockern und etwas lässiger wirken zu lassen, und setzte sie wieder auf. Ihr Gesicht wirkte blaß in dem grellen Licht, das zum Schminken vorteilhaft war und erschreckend, wenn man sich nachts in seiner Beleuchtung sah. Sie legte das scheußliche pinkfarbene Kostüm und die verhaßte Unterwäsche ab und genoß einen Moment die Befreiung. Nach der Chemo würde sie abnehmen. Der Arzt hatte gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, er habe Patientinnen, die bald mühelos wieder in Größe vierunddreißig gepaßt hätten. Größe vierunddreißig würde Bridget nie erreichen, aber achtunddreißig wäre wundervoll.
Sie schlug das rosa Seidenpapier auseinander und hielt das seidene Nachthemd hoch, im Stil der Dreißigerjahre schräg geschnitten und leicht tailliert. Wunderschön für eine Braut, eine junge Braut, aber als Bridget das elegante schwarze Modell im Schaufenster gesehen hatte, war ihr erster Gedanke: Warum nicht? Warum sollte sie Bill etwas vorenthalten, was ihm gefallen würde? Warum sollte sie diese Hochzeitsnacht anders gestalten, als sie es getan hätte, wenn sie mit zwanzig geheiratet hätten?
Sie zog das Nachthemd an und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Das fließende Gewand mit dem Spitzenbesatz formte sanft ihre Brüste nach, ließ aber nichts von der Operation an der rechten Brust ahnen. Sie putzte sich die Zähne und trug Lipgloss auf, das zweifellos Noras schöne Bettwäsche verschmieren würde. Sie tupfte sich den Mund ab. Sie war noch geschminkt, und das Makeup würde sich wahrscheinlich auch hübsch über die Kopfkissen verteilen, aber was sollte man machen? Ein bißchen Geschmiere in der Hochzeitssuite, das war doch zu erwarten, oder?
Sie öffnete die Zimmertür und war überrascht, daß das Licht noch brannte. Als sie um die Ecke bog, sah sie Bill, noch in Hemd, Socken und Boxershorts, vornübergebeugt auf der Bettkante sitzen. War sie zu früh aus dem Bad gekommen? Hatte er sich noch nicht hingelegt, weil er bei Matt oder Melissa angerufen hatte, um zu hören, ob sie sich gut unterhalten hatten? Sie trat näher, und er sah auf. Er weinte.
Bill weinte.
»Ich mußte so lange ohne dich leben, und jetzt verliere ich dich vielleicht«, sagte er.
Bridget wurde kalt, als sie erkannte, daß Bill glaubte, sie würde sterben. Vielleicht trug er den Gedanken schon die ganze Zeit mit sich herum.
Sich vorzustellen, daß der Tod einen erwartete, war schlimm genug. Viel schlimmer war es, von einem anderen zu hören, daß er auch daran dachte.
Bridget wünschte, sie hätte einen Morgenrock an. Aber sie konnte ihren frisch angetrauten Ehemann nicht weinend auf der
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