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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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bin hierher gekommen, um diese Geschichte zu erzählen«, sagte Harrison. »Auf der Fahrt wußte ich es noch nicht, aber jetzt weiß ich es. Agnes wäre stolz auf mich, meinst du nicht?«
    »Harrison!«
    »Und das Beste«, sagte Harrison, »das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt. Nach der Beerdigung kam Stephens Vater zur Abschlußfeier. Erinnerst du dich nicht? Bei der Feier wurde eine Gedenkrede für Stephen gehalten. Danach kam Mr. Otis zu mir ins Zimmer und sagte, er wolle den Ort sehen, wo Stephen gestorben ist. Er wisse, daß ich der letzte sei, der ihn lebend gesehen habe, und die Stelle sicherlich kenne.«
    Harrison beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien, die Hände vor dem Gesicht gefaltet. »Wir fuhren mit Mr. Otis’ Wagen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte ungeheuer viel zu sagen und doch gar nichts. Ich führte ihn zu dem Haus. Wir ließen den Wagen in der Einfahrt stehen. Wir gingen durch die Dünen neben dem Haus zum Deich hinaus. Ich blieb einfach stehen. Ich zitterte.
    Hier ? Fragte sein Vater.
    Ich nickte.
    Du hättest nichts tun können, mein Sohn , sagte er zu mir. Er nannte mich Sohn und legte mir die Hand auf die Schulter. Er wollte mich trösten. Ich habe innerlich aufgeschrien. Ist gar nicht wahr, hätte ich am liebsten gesagt. Ich hätte sehr wohl etwas tun können.«
    Harrison hoffte, Nora würde jetzt nicht die Worte von Stephens Vater wiederholen oder sagen: Du hast ganz richtig gehandelt , wie es wohl viele Frauen getan hätten. Eine Absolution der leeren Worte, für Harrison einer Sünde gleich.
    Es stimmte nicht, dachte Harrison, daß eine Beichte von Schuld befreite. Es war bequem, so zu denken, aber es war nichts als Selbsttäuschung. Er wußte jetzt, daß eine Beichte alles nur greifbarer machte.
    Wie schmutzig und traurig war diese Geschichte, die er gebeichtet hatte. Er konnte sich nicht mehr an Stephen erinnern, an den Menschen, der er gewesen war. Er hatte innere Bilder von ihm und Fotografien, ein paar davon zu Hause, viele im Jahrbuch, in dem Stephen Otis auf makabre Weise allgegenwärtig war. Kapitän der Baseballmannschaft. Sprecher der Abschlußklasse. Klassenclown. Manche Bilder von Stephen hatte Harrison mit Gewalt zu vertreiben gesucht. Wie er mit Nora auf einem Bett lag. Wie er ins Wasser watete. Andere liebte er. Wie er einem flachen Ball entgegenhechtete und ihn abfing, einen Home Run des Gegners verhinderte und der eigenen Mannschaft den Sieg rettete. Aber Stephen – das, was ihn ausgemacht hatte – war nicht mehr da. Nur Anekdoten und Fotografien erinnerten noch an ihn.
    Harrison hörte hinter sich das Bettzeug rascheln. Es war Zeit zu gehen. Die klassische Geste wäre jetzt gewesen, aufzustehen und zu gehen, ohne einen Blick zurück, ohne Worte, die nur banal sein konnten und alles, was vorher gesagt worden war, ins Triviale ziehen würden. Aber Harrison wußte, daß er die Geschichte schlecht erzählt, vielleicht aufgebauscht hatte, daß er sie mit Gefühl aufgeladen hatte und es nun theatralisch oder unaufrichtig gewesen wäre, einfach zu gehen. Der Freund müßte doch die Freundin trösten. Müßte doch mindestens sagen: Es tut mir leid.
    Als Nora ihm von hinten die Hände auf die Schultern legte, zuckte er zurück. Zwei zarte, warme Hände mit der Kraft von Bomben. Die was signalisierten? Vergebung? Oder war die Geste nur als Beruhigung gemeint, mit der sie besänftigen, die Rede zum Versiegen bringen wollte, weil ihr Ohr so deutlich wie seins das Banale hörte?
    Er war wie elektrisiert, als sie die Hände unter seinen Kragen schob und dann nach vorn über seine Brust, bis ihr Kopf an seiner Schulter ruhte, ihre Wange sein Ohr berührte. Die Entscheidung – mit einem entschiedenen Nein ihre Hände zu fassen und ihr Gelegenheit zu geben, sie zurückzuziehen oder sich herumzudrehen und sie auf den Mund zu küssen – fiel in einem Sekundenbruchteil. Nach siebenundzwanzig Jahren bloßer Phantasien hielt er das Mädchen, die Frau, wirklich in den Armen, und die Realität war so intensiv, daß es ihm den Atem nahm. Er küßte sie, und auch der Kuß war intensiver, sprach von Jahren der Erfahrung, die er sich nun den Rest seines Lebens würde vorstellen müssen.
    Nora löste sich von ihm und ging zur Tür. Einen erschreckenden Moment lang glaubte er, sie wolle das Zimmer verlassen, aber sie sperrte nur ab. Als sie sich ihm zuwandte, ohne dieses drollige halbe Lächeln, war er überwältigt. Sie streifte ihre Schuhe ab. Wie schön sie

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