Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
hatte.
    »Ich bin ihm in den Weg getreten«, sagte Harrison. »Ich dachte einzig daran, daß ich Stephen vor Jerrys neugierigen Blicken schützen müßte. Ich weiß nicht, was ich sagte. Vielleicht fragte ich: Hast du Stephen gesehen? , um ihn auf eine falsche Fährte zu locken.
    He, Mann, was ist passiert? fragte Jerry.
    Ich warf ihm ein, zwei Fakten hin, um ihn fürs erste zufriedenzustellen, und lotste ihn ins Haus zurück. Es ist eisig hier draußen , sagte ich. Gehen wir wieder rein . Ich weiß nicht mehr genau, was ich noch gesagt habe, aber es klappte. Ich hatte Jerry genug Stoff geliefert, er ging gleich los, um es weiterzuerzählen.«
    Harrison trat zu dem Sessel, den Nora einige Minuten zuvor freigemacht hatte, und setzte sich. »Als ich wieder hinauskam, war Stephen nicht mehr da.«
    Nora weinte.
    »Ich rannte zum Strand hinunter«, sagte Harrison. »Ich rief immer wieder Stephens Namen. Aber bei dieser Brandung hätte kein Mensch mich hören können. Du weißt ja, wie laut es da unten am Strand immer war – sogar an fast windstillen Tagen mußte man schreien, wenn man gehört werden wollte. Ich suchte nach Fußspuren, aber ich sah nichts. Die Flut kam herein und spülte alles weg, was da vielleicht gewesen war. Ich dachte, Stephen hätte seine Hose entweder weggeworfen oder so gut wie möglich gewaschen und wäre dann zum Wohnheim zurückgelaufen. Ich dachte, ich hätte mich vielleicht zu lange mit Jerry aufgehalten und Stephen hätte keine Lust mehr gehabt zu warten.«
    Harrison rieb sich die Augen.
    »Heute weiß ich es besser. Ich hätte zur Straße laufen und schreien sollen, ich hätte zum nächsten beleuchteten Haus laufen und von dort die Polizei anrufen sollen. Die hätte die Küstenwache alarmiert. Aber hätte die ihn gerettet? Ich weiß es nicht. Bei der Kälte wäre ein Mensch im Wasser in weniger als einer halben Stunde tot gewesen.«
    Er hielt inne.
    »Ich rannte ins Wohnheim. Er war nicht in unserem Zimmer. Ich lief durch sämtliche Korridore und rief seinen Namen. Als ich ihn nicht fand, rannte ich nach unten und sagte der Aufsicht Bescheid. Ich sagte, zuletzt hätte ich ihn am Strand gesehen.«
    Es blieb lange still.
    »Die Schule alarmierte die Polizei. Aber die brauchte volle siebenundzwanzig Minuten, um zu kommen. Es spielte keine Rolle mehr, denn da war es natürlich längst zu spät.«
    Harrison seufzte tief.
    »Ich versuche, mir einzureden, daß Stephen höchstens ein paar Sekunden hilfloser Panik durchgemacht haben kann. Aber woher soll ich das wissen? Und wie grauenvoll diese paar Sekunden gewesen sein müssen. Ich denke mir, er verhedderte sich mit den Füßen in seiner Hose und konnte nicht aufstehen. Vielleicht schaffte er es auf die Knie. Dann kam eine Welle und warf ihn um, er lag im Wasser und wurde von der Unterströmung mit fortgerissen.«
    »O Gott«, sagte Nora.
    »Deswegen habe ich nie über diese Sache gesprochen«, fuhr Harrison fort. »Wegen dieses einen jämmerlichen Details. Ich habe es für mich behalten. Ich habe sogar versucht, es zu vergessen. Das ist das letzte Bild, das ich von meinem Freund habe, wie er im Wasser sitzt und sich mit seinem Gürtel abmüht. Ich wollte mir einreden, daß ich Stephens wegen nie darüber gesprochen habe. Um sein Andenken nicht zu beschmutzen. Aber wir wissen beide, daß das nicht stimmt.«
    Harrison senkte den Kopf in seine Hände. Es war grausam gewesen, Nora das alles zu erzählen, und wozu? Um die Wahrheit zu sagen? Was half einem das?
    »Hat Agnes es gewußt?« fragte Nora.
    »Niemand hat es gewußt«, antwortete Harrison.
    »Wir sind alle schuldig«, sagte Nora. »Genau das hat Agnes gemeint. Du. Jerry. Ich, mehr als alle anderen. Ich war es Stephen schuldig, auf ihn aufzupassen.«
    »Ich am meisten«, sagte Harrison. »Er war mein Freund. Ich denke an sein Leben – weg. Ein ganzes Leben einfach weg. Siebenundzwanzig Jahre Leben, die nicht gelebt wurden.«
    »Ich halte das nicht aus«, sagte Nora.
    »Du weißt, daß seine Leiche am Strand von Pepperell Island angespült wurde«, sagte Harrison. »Mit einem Strick um den Hals, der wohl im Wasser getrieben und in den er sich irgendwie verheddert hatte. Was natürlich sofort zu Selbstmordspekulationen Anlaß gab. Völlig unhaltbar. Ich habe nie jemanden gekannt, dem ein Selbstmord weniger zuzutrauen war als Stephen Otis. Es sei denn, man zählt einen langsamen Tod durch Alkoholvergiftung dazu.«
    »Ach, Harrison, er wäre für immer Alkoholiker gewesen«, sagte Nora.
    »Ich

Weitere Kostenlose Bücher