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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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einer öffentlichen Schule unterrichtet hatte, in Motels und Hotels anonymer Städte getroffen hatten. Sie zehrte noch heute von der Erinnerung an den Kitzel, wenn sie losgefahren war in eine Stadt, in der sie noch nie gewesen war, sich in einem Hotel eingemietet und dann, wie ausgemacht, Jim zur verabredeten Stunde in der Bar getroffen hatte. Später hatte sie sich an der Kidd Academy beworben und Jim mit der Neuigkeit ihrer Anstellung überrascht. Drei Jahre lang hatte sie ihn jeden Tag gesehen, bis er nach Wisconsin gegangen war und sie sich wieder nur gelegentlich treffen konnten. Nora, Harrison, Bridget und die anderen würden sich erinnern, daß Jim verheiratet gewesen war. Und wenn sie erfuhren, daß er es immer noch war, würden sie dann wissen wollen, wie Agnes so viele Jahre damit klargekommen war? Sechsundzwanzig Jahre lang, um genau zu sein.
    Sie würde ihre Fragen mit einer Gegenfrage beantworten: Warum sollte eine Ehe die einzig mögliche glückliche Lösung sein?
    (Nein, sagte sie sich plötzlich, sie würde nicht darüber sprechen. Es war schließlich Bridgets Hochzeit.)
    Trotzdem. Agnes hätte die anderen gern gefragt, was ihrer Meinung nach wahrhaftiger war, eine Liebesbeziehung zu leben oder sie sich vorzustellen? War es nicht weit wunderbarer, sich auf eine grenzüberschreitende Leidenschaft einzulassen, anstatt die langweiligen und mechanischen Rituale einer Ehe zu ertragen? Agnes’ Idealvorstellung war, daß sie und Jim sich weiterhin in anonymen Zimmern in anonymen Hotels treffen würden. Sie hatte kein Verlangen danach, Ehefrau zu sein. Sie wollte lieber die feste Geliebte sein. Wenn sie nur sicher sein könnte, daß die Beziehung dauern, daß Jim immer dasein würde.
    Agnes hatte gern Gewißheit.
    Es stimmte vielleicht nicht ganz, daß sie sich gegen die Ehe entschieden hätte, wäre ihr die Wahl gelassen worden. Das Schwierige war, daß Jim bisweilen Zweifel plagten. Er wurde von Schuldgefühlen überwältigt. Er rang mit Gewissensfragen. Dieser Kampf hielt ihn Agnes fern, meistens über Monate, gelegentlich über Jahre.
    Dann würde sie eben eine andere Frage stellen. Wenn einem Mann der Mut der Überzeugung fehlte, war er dann trotzdem ein anständiger Mann?
    Aber wie definierte man »anständig«? Agnes dachte an Bill und Bridget, die nach einem Funken Glück haschten, bevor vielleicht schreckliche Zeiten für beide anbrachen. Konnte eine Frau einen Mann, der um ihretwillen Frau und Kinder verlassen hatte, wahrhaft lieben? War Bill ein anständiger Mann? Bestand eine echte Beziehung, obwohl der Mann sich des Verrats schuldig gemacht hatte? Welchen Preis zahlte Bills Frau für sein Glück? Und welchen Preis zahlte Jims Frau – Carol , was für ein kalter Name! –, die, ohne es zu wissen, mit einem Mann zusammenlebte, der sie nicht liebte?
    Aber natürlich würde Agnes nichts von alledem sagen.
    Jims letzter Brief an Agnes war vom Juni. Agnes hatte ihm seit dem elften September zweimal geschrieben, aber keine Antwort erhalten.
    Jims Briefe waren ihr teuer. Sie waren voller Versprechungen von Liebe und Leidenschaft. Sie waren voller Erinnerungen. Er war der einzige, der die andere Seite ihrer gemeinsamen Geschichte kannte. Agnes glaubte Jims Briefen von ganzem Herzen.
    Sie hatte so lange gewartet. Sie konnte auch noch etwas länger warten.
    Geschichten, dachte Agnes, handelten im allgemeinen von Dingen, die sich ereignet hatten. Ihre besondere Geschichte handelte von Dingen, die sich nicht ereignet hatten. Was sich nicht ereignet hatte, war die Summe aller Tage und Jahre, die sie und Jim nicht zusammen verbracht hatten; der Tage und Jahre, die unwiederbringlich verloren waren. Aber, dachte sie, ihre Geschichte war noch nicht zu Ende. Es blieben immer noch Möglichkeiten. Manchmal fühlte Agnes sich wie gelähmt in Erwartung eines außerordentlichen Schicksals, das sich immer noch erfüllen konnte.
    Agnes folgte den Hinweisschildern zum Gasthof (geschmackvolle goldene Schrift auf dunkelgrünem Grund) durch kleine Dörfer auf eine schmale Straße und zum Schluß eine lange Auffahrt hinauf. Froh, sich nicht verfahren zu haben, stellte sie ihren Honda Civic auf dem Parkplatz ab und stieg aus. Ihr Knie war steif von der Anstrengung der Fahrt, und sie humpelte ein wenig, als sie ihr Gepäck vom Rücksitz nahm. Nachdem sie kurz die Aussicht bewundert hatte, die unverändert war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Haus zu, das jetzt im Sonnenlicht leuchtete.
    Mein Gott, dachte sie, was für eine

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