Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
aber die Rücken hielten immer noch.
Die Bücher hatten ihn einen Teil dessen gelehrt, was er wissen mußte. Den Rest hatte er im klinischen Studium gelernt. Er wußte jetzt zum Beispiel, wie jemand wahrscheinlich reagieren würde, wenn er erfuhr, daß er den Rest seines Lebens blind sein würde. Zuerst trat eine Starre ein, die im Gesicht anfing und den ganzen Körper in Mitleidenschaft zog, eine gespenstische Reglosigkeit, die Minuten andauern konnte. Dann folgte der Schock, der körperliche und seelische Schmerzen auslöschte, eine Art barmherziges Intermezzo. Fast nie hatte Innes einen Patienten sofort aufschreien hören. Vorher schuf der Geist Bilder und Vorstellungen davon, wie es sein würde, ohne Augenlicht zu leben, für immer blind zu sein. Und dann schließlich das Nachgeben der Glieder, das Bedürfnis, sich irgendwo abzustützen. Selbst die Jüngsten und Stärksten gingen davon wie von Keulenschlägen getroffen.
Innes hatte sich für die Chirurgie entschieden und für die Augenheilkunde im besonderen, weil das Augenlicht seiner Mutter stetig schwächer geworden war, seit er dreizehn Jahre alt war. Er hatte schon als Junge viel über das Auge nachgedacht und sich, als er älter wurde, die raffiniertesten Methoden ausgedacht, um seiner Mutter zu helfen. Einmal baute er eine Art Metalltrichter, der um ihr Gesicht gelegt werden und mehr Licht einfangen sollte. Dann wieder ging er mit zwei Brillengläsern zu einem Apotheker, um sich zeigen zu lassen, wie man sie schliff. Doch die Gläser waren so schwer, daß seine Mutter die Brille nicht auf der Nase behalten konnte. Schließlich bat sie ihn, aufzuhören; es reiche vollkommen, sagte sie, daß er selbst gut sehe.
Innes ging nach Maine, um Medizin zu studieren, jetzt aber war er nach Hause gekommen. Allerdings nicht in das Fischerdorf Cape Breton, wo seine Mutter und seine Schwester Netze und Pullover anfertigten, sondern in die Stadt, die ihn immer gelockt hatte. Er würde seine Ausbildung am Dalhousie Krankenhaus bei Dr. Fraser abschließen. Und dann in die Welt hinausgehen.
In der Geschichtswissenschaft, erklärte Agnes ihren Schülern stets am ersten Schultag, gehe es nicht um Daten und Schlachten, sondern eben um Geschichten. Sie würde ihnen Geschichten erzählen, sagte sie, und sie würden ihr zuhören. Aber während sie jetzt Schreibheft und Stift verstaute, fragte sie sich: Ist die Phantasie auf Erleben angewiesen, oder wird das Erleben von der Phantasie beeinflußt?
Agnes fuhr von der Raststätte weiter in Richtung Gasthof. Schon nach kurzer Zeit entdeckte sie die Schilder, nach denen sie Ausschau gehalten hatte. Als sie vor der Ausfahrt abbremste, wurde ihr bewußt, daß sie aufgeregt war. Wer würde da sein? Harrison bestimmt. Und natürlich Bill und Bridget. Rob. Jerry und seine Frau, die Agnes nicht kannte – und wer überhaupt kannte sie? Agnes hatte Harrison, Rob und Jerry seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Sie würden sich natürlich umarmen, aber es wären Fremde für sie. Sie dachte an die vielen Tage, die vergangen waren, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten. Und plötzlich wußte sie, woher ihre Aufregung kam. Sie kannten Jim. Zu ihnen konnte sie Jims Namen laut sagen. Sie kannten ihn natürlich nur als Mr. Mitchell, den jungen Englischlehrer, der sie mit Whitman und O’Neill und dann mit Kerouac und Sylvia Plath bekannt gemacht hatte. Er hatte sie noch zum Lachen gebracht, als sie sich schon als angehende Intellektuelle gesehen hatten. Agnes würde ganz beiläufig sagen können: Erinnert ihr euch an Mr. Mitchell ? (Ein muskulöser Brustkorb, eine Mulde zwischen Gürtelschließe und Beckenknochen. Ein stechender Schmerz – eine Sehnsucht, so vertraut wie das Atmen – durchzog Agnes’ Körper, und sie wartete darauf, daß er vorbeigehen würde.)
Sollte sie es ihnen erzählen? War die Frage jetzt noch von Bedeutung? Ja, natürlich war sie von Bedeutung. Jim war immer noch verheiratet. Aber angenommen, sie könnte es ihnen erzählen, was würden sie sagen? Sie wären schockiert. Ihre Agnes – standhaft, gewissenhaft und manchmal störrisch (nur sexy hatten sie sie bestimmt nie gefunden) – in ein Verhältnis mit einem Mann verstrickt, der ihrer aller Lehrer gewesen war.
Jim. In ihrem Herzen und in ihrem Blut. Sie würde ihnen erzählen, wie es angefangen hatte, wie schwer es gewesen war, die Beziehung geheimzuhalten, wo sie sich getroffen hatten, um zusammensein zu können. Wie sie sich später, als sie an
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