Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
las auf der Kanzel. Es gab keinen anderen Platz für ihn. Und – na ja, du kannst es dir vorstellen. Dieser Mann, dieser Kopf mit der wilden Mähne, diese tragende Stimme. Hast du Carl mal lesen hören?«
»Ja. Einmal, in New York, glaube ich.«
»Er – er war phantastisch«, sagte Nora. »Es war eine Performance. Und die Worte – die Worte …« Sie drückte eine Hand auf die Brust, als wäre sie selbst jetzt noch, nach so vielen Jahren, leicht benommen von den langvergangenen Worten. »Er las aus Bones of Sand . Er entdeckte mich von der Kanzel aus. Ich glaube, er ließ mich während der ganzen Lesung nicht aus den Augen. Er hat in Wirklichkeit gar nicht gelesen, weißt du. Er hat immer alles vorher auswendig gelernt. So daß die Vorstellung, wenn man es so nennen will, absolut packend war.«
»Ich stelle mir gerade einen charismatischen Calvinisten auf der Kanzel einer Kirche in Neuengland vor«, sagte Harrison.
Nora schaute auf ihre Uhr, und Harrison merkte, daß ihn diese sich wiederholende Geste zu ärgern begann. »Er wohnte in einem Hotel«, sagte sie. »Aber du willst das nicht alles hören.«
Harrison wollte und wollte auch nicht. »Es interessiert mich vom Standpunkt des Verlegers aus«, sagte er. »Manchmal wirft eine Tatsache Licht auf das Werk.«
»Ein Gedicht«, erklärte Nora, »ist ein Akt der Phantasie. Es ist selten, wenn überhaupt, ein Akt unmittelbarer Berichterstattung.«
Harrison war sich nicht sicher, ob er dem zustimmte. »Du glaubst nicht, daß dein Mann irgendwann das Kind gesehen hat, das mit einem roten Koffer am Flughafen wartete?«
»Nein«, antwortete Nora mit einer Haltung des Überdrusses, die Harrison erstaunte. »Ich habe schon vor Jahren alle Versuche aufgegeben, direkte Verknüpfungen herzustellen. Ich glaube – ich glaube, die Leser würdigen die Phantasie des Schriftstellers nicht genug. Immer wollen sie wissen, ob der Autor dies oder jenes selbst erlebt hat. Hat er natürlich meistens nicht. Jedenfalls nicht genauso. Nicht so wie beschrieben. Es ist die Arbeit der Phantasie. Durch sie wird ein Werk lebendig.«
»Aber das kastanienbraune Haar«, widersprach Harrison behutsam. »Ich nehme an, für Monday Morning und Talk After Supper warst du das Modell.«
»Nein«, entgegnete Nora und wandte sich ab. »Das Ideal war vor mir da.«
Die Bemerkung war voll schillernder Bedeutung, und Harrison ging nicht darauf ein. »Ich habe übrigens ›Gehilfin‹ mal nachgeschlagen«, sagte er. » Ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Genesis. Adam und Eva. Eine Partnerin, die für ihn geeignet ist. Ich nehme an, das paßt auf dich und Carl?«
»Manche Männer brauchen Frauen, um das Gefühl zu haben, daß sie existieren.«
Harrison legte seine Serviette neben seinen Teller.
»Möchtest du Kaffee?« fragte Nora.
»Ja, gern, danke.«
Harrison sah, wie Nora jemandem, der hinter ihm stand, ein Zeichen gab.
»Du hast überhaupt nichts von einer Gastwirtin«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Ich stelle mir darunter entweder eine dralle Person mit roten Backen vor oder eine steife alte Jungfer, aber nicht …« Er stockte. Er würde sich eine allzu tiefe Intimität anmaßen, wenn er ihr sagte, wie er sie sah. »In einer anderen Zeit wärst du die Mutter von Kriegshelden gewesen«, sagte er statt dessen, »oder die Frau eines hervorragenden Arztes. Oder du wärst vielleicht selbst Dichter gewesen.«
»Dann hätte man ›Dichterin‹ gesagt.«
»Das ist wahr.«
»Man könnte argumentieren, daß eine Gastwirtin – mit der finanziellen Unabhängigkeit und der Eigenverantwortung, die dazu gehören – besser dran ist als eine Ehefrau und Mutter. Auch besser als eine Dichterin.«
»Auch wahr«, sagte Harrison. Sein Teller wurde weggenommen und eine Tasse Kaffee vor ihn hingestellt. »Du nimmst keinen?« fragte er.
»Ich – ich trinke ohnehin schon zuviel Kaffee.«
»Ich habe vorhin eine kleine Wanderung gemacht«, berichtete Harrison, während er Milch in den Kaffee rührte. »Ich bin bis zu einer Steinmauer gekommen, die mitten in der Wildnis plötzlich aufhört.«
»Sie gehörte früher zu einem Gut.«
»Eine merkwürdige Gegend für ein Gut.«
»Es gibt in diesen Wäldern viele Zufahrtsstraßen. Die ins Nichts zu führen scheinen.«
»Ich nehme an, das ist dein Hochzeitsprobenkostüm«, sagte er, mit dem Löffel zeigend.
»Richtig.«
»Sehr hübsch«, meinte er in absichtlich leichtem Ton. »Wie ging es mit euch weiter, als du aus Provincetown
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