Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
durchkommt«, sagte er leise.
»Genug.« Nora stand auf. »Es ist gleich drei. Ich muß los.« Sie ging zur Tür und blieb dort stehen. »Du kommst bis halb sieben allein zurecht?«
»Aber ja«, antwortete Harrison und kam ebenfalls zur Tür. »Ich habe mir Arbeit mitgenommen. Vielleicht sehe ich mal, ob ich Agnes finde.«
Er stand so nahe bei Nora, daß er ihr Shampoo riechen konnte.
»An dem Abend«, begann sie.
Harrison schüttelte den Kopf.
»Nein. Du hast recht.« Nora berührte Harrison mit der geöffneten Hand an der kleinen flachen Mulde zwischen Schulter und Schlüsselbein, und es war Harrison, als berührte sie seine bloße Haut. Doch kaum hatte er die Berührung wahrgenommen, da war sie schon vorbei, und Nora ging wieder den Flur entlang vor ihm her. »Ich kann es kaum erwarten, Rob zu sehen«, sagte sie von irgendwo – Meilen voraus.
AGNES PACKTE die orangefarbene Sporttasche aus und legte ihre Sachen aufs Bett. Jeans und einen handgestrickten Pullover. Ein roséfarbenes Kostüm für die Cocktail-Party am Abend. Ein blaues Wollkleid, das sie morgen zur Trauung tragen würde. Sie setzte sich auf die Bettkante und aß einen Schokoriegel. Sie wußte, daß es im Gasthof Mittagessen gab – hatte Nora das nicht geschrieben? –, aber sie mußte sparsam sein, weil sie an der Kidd Academy nur ein bescheidenes Gehalt bekam. Sie wußte nicht, ob Noras großzügiges Angebot, alle Hochzeitsgäste kostenlos in ihrem Haus unterzubringen, auch die Mahlzeiten einschloß. Und sie hatte nicht fragen wollen.
Beim Essen dachte sie an den Besichtigungsrundgang, den sie zuvor unternommen hatte, vom Salon, streng und doch einladend, in die schöne Küche mit den neuen Geräten, durch die Korridore mit dem frischen weißen Anstrich. Hatte Nora mit einem Innenarchitekten gearbeitet oder war die Einrichtung ihr eigener Geschmack? Es war wie eine Reinigung, dachte Agnes, als wäre der Gasthof in eine Waschmaschine gesteckt worden, und etwas ganz Neues wäre herausgekommen. Ja, es war die Neuheit – mit Gewicht und Struktur –, die sie so irritierte.
Aber da war noch etwas anderes, ein verschwommener Eindruck, der sich in der Küche eingestellt hatte, bevor sie gestört worden war. Was war es nur? So prachtvoll die Küche war, irgend etwas stimmte nicht. Agnes schloß die Augen. Ja, das war es: der Fleischgeruch. Köstlich eigentlich, aber er gehörte nicht in die Küche von früher. Carl war Vegetarier gewesen, ein Purist. Agnes erinnerte sich schaudernd an die selbstgemachte Seife, schleimig und körnig zugleich, im winzigen Badezimmer am Ende des Flurs.
Der Fleischgeruch in der Küche. Carl Laski würde sich im Grabe umdrehen. Wo war sein Grab überhaupt?
Agnes, die in ihrer besten Schulgarderobe gekommen war, da sie nicht gewußt hatte, ob sie nicht gleich bei der Ankunft Jerry, Bill oder Bridget begegnen würde, zog Pulli und Jeans und ihre L.L.Bean-Stiefel an, aß den letzten Rest des Kraftriegels, trank einen Schluck Wasser aus der Flasche, die der Gasthof jedem Gast zur Verfügung stellte, und steckte den goldenen Schlüssel ein. Sie hängte sich den Rucksack über die Schulter.
Am Empfangstisch im Vestibül fand sie eine Wanderkarte. Sie blieb auf der Vortreppe stehen, um die Karte zu studieren und sich zu orientieren. Ihr war heiß in dem Pullover, aber sie wollte nicht noch einmal in ihr Zimmer hinaufgehen, um sich umzuziehen. Im Laufe des Nachmittags würde es sicher kühler werden, und vielleicht würde sie ja auch im Schatten des Berges gehen. Es war ein außergewöhnlicher Tag, und sie wollte das Beste daraus machen. Es war etwas Besonderes, laufen zu können, ohne daß einem der Wind ins Gesicht peitschte wie im Dezember oben am Meer.
Agnes ging los, ungeduldig und begierig darauf, ihre Muskeln einzusetzen, die sich auf der langen Fahrt von Maine hierher verspannt hatten. Sie stellte sich vor, sie würde die Hügelflanke hinauf joggen, merkte aber schnell, daß der Weg steiler war, als er zuerst ausgesehen hatte. Sanftes Licht sickerte durch die Bäume, deren Geäst den Blick auf den Gasthof und die fernen Berge verschleierte. Wenn Jim zu diesem Wochenende mitgekommen wäre, hätte er sie auf der Wanderung nicht begleitet. Er war ein besinnlicher Mensch, körperliche Bewegung machte ihm wenig Spaß. Er ließ sich vielleicht zu einem Spaziergang überreden, aber nur selten schien er ihn zu genießen. Niemals, soweit Agnes sich erinnerte, hatte er zu einem Spaziergang oder einer Wanderung angeregt.
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