Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)
Hand, aber Harrison erkannte deutlich, wohin ihr Blick ging. Sie war Stephens wegen gekommen.
Selbst jetzt, im Speisesaal des Gasthofs, verspürte Harrison etwas wie ein leichtes Nachbeben des Schocks jenes Nachmittags. Zuerst die Verwirrung. Dann die ungläubige Überraschung. Schließlich die Wut auf Stephen, obwohl er wußte, daß Stephen den Verrat unwissentlich begangen hatte: Harrison hatte nie mit ihm über die versäumte Gelegenheit gesprochen – da ja eine versäumte Gelegenheit der Definition nach ein Nicht-Ereignis war.
Mit seinen Gedanken plötzlich ganz woanders, schaffte Harrison es nicht, seine Position einzunehmen, sich locker zu machen, als der neue Werfer seinen ersten Ball warf. Strike Nummer eins. Harrison blickte von Stephen zu Nora und wieder zu Stephen, ein Hin und Her wie in einem Comic, und sah sein Gefühl bestätigt, als er bemerkte, wie Stephen zum Hügel hinüberschaute und lächelte. Wieso nur hatte er dieses Lächeln nicht vorher schon bemerkt? Es war doch bestimmt nicht das erste während dieses Spiels.
Der Schlagmann schlug nach einem schlechten Ball – Strike zwei. Der hätte Harrison eigentlich wecken, auf einen Grounder und einen dritten Strike gefaßt machen müssen. Der Schlagmann schlug nach dem Ball, der hoch und außerhalb war. Er traf ihn, so unwahrscheinlich es schien, und schlug ihn blitzschnell zu Harrison, der ihn hinter den First Baseman kickte, einen Jungen aus der obersten Klasse. Der rannte los und versuchte, den Ball zu erwischen, als dieser gegen einen Holzzaun prallte.
Der Läufer kam indessen bis zur zweiten Base .
Harrison, der zu Stephen hinüberschaute, bemerkte Verwunderung im Gesicht des Freundes. Wütend wandte er sich ab. Jetzt war der Werfer von North Fenton zum Schlagen an der Reihe, ein sicheres Aus, wie es schien, aber dann wurde es ein flach über den Boden geschlagener Groundball , der dem Werfer von Kidd zwischen den Beinen hindurchsauste. Harrison fing den Ball, war aber mit dem Wurf zu langsam, so daß der Läufer vorher da war. Als Harrison aufblickte, sah er, daß der Läufer von der zweiten Base gepunktet hatte.
0:7
Den Rest des Spiels konnte er sich nicht mehr vergegenwärtigen, aber er wußte noch, daß er danach, als sie ihre Schläger und Mützen holten und die Schokoschnitten aßen, die eine Mutter mitgebracht hatte, sah, wie Stephen zu Nora ging. Sie stand auf und klopfte sich den Rock ab. Stephen stand dicht vor ihr und redete. Über den erbärmlichen Kampf? Über sein eigenes perfektes, aber vergeudetes Spiel? Einmal sah Nora zu ihm auf und lächelte. Obwohl die beiden sich nicht berührten, erkannte Harrison daran, wie nah Nora Stephen an sich heranließ, daß sie sich schon berührt hatten , daß sie sich vielleicht sogar geküßt hatten. War es möglich, daß sie schon miteinander geschlafen hatten?
Harrison nahm eine flüchtige Berührung an seiner linken Schulter wahr und blickte auf. Nora stand neben ihm. »Die Fliege hatte sich offenbar nicht nur auf die Früchte gesetzt«, sagte sie. »So – so wie sie dalag, hat sie sich vor ihrem Tod anscheinend an der süßen Sirupsoße gütlich getan.« Nora trug einen schmalen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, durch deren Stoff Harrison ihr Unterkleid sehen konnte. Er wollte aufstehen, aber sie bedeutete ihm zu bleiben und setzte sich ihm gegenüber. »Das – das ist genau genommen kein Verbrechen«, fügte sie hinzu, »und dieses Geschehnis kann auch das Wohlgefühl, mit dem ich vorhin auf der Veranda saß, kaum beeinträchtigen. Jedenfalls nicht so wie zum Beispiel eine Rohrverstopfung. Aber ich frage mich, ob es nicht ein Omen für das kommende Wochenende ist. Wenn man ›Wohlgefühl‹ mal als eine Frucht betrachtet, die Schicht um Schicht abgeschält werden kann.«
Harrison lächelte über diese barocke Entschuldigung.
»Ich mache Witze«, sagte Nora. »Eigentlich wollte ich nur sagen, daß mir das mit der Fliege leid tut.«
»Braucht es nicht«, versetzte Harrison, »wenn das Ergebnis so ein hinreißend unzüchtiges kleines Bild ist.«
»Judy hat mir den Teller zur Begutachtung gebracht.« Nora trug Perlenohrringe und, im Gegensatz zum Morgen, einen Hauch Make-up. Ihre Lippen glänzten. Ihre Augen waren dunkler, klarer umrandet.
»Dann ist Judy eine sehr ehrliche Person, und du solltest sie auf ewig behalten. Sie hat sich mehr als hinreichend entschuldigt, für euch beide.«
»Judy ist ein hübsches Ding, der es allerdings an Charme fehlt«, sagte Nora. »Aber sie
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