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Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition)

Titel: Eine Hochzeit im Dezember: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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aufgereiht.
    »Das ist deine Wohnung?« fragte Harrison.
    »Nur ein Schlafzimmer und ein Bad. Ich esse immer in der Küche. Ich koche nie selbst.«
    »Kein schlechtes Leben.«
    »Wenn man den Fünfzehn-Stunden-Tag mag.«
    »Im Ernst?«
    »An den Wochenenden, ja.« Sie trat zu ihrem Schreibtisch und zog eine Schublade auf. »Die Feste dauern oft bis Mitternacht. Man kann versuchen, um elf Uhr Schluß zu machen, aber es klappt selten. Die Leute würden ewig weitermachen, wenn wir es zuließen. Was ist bloß aus dem alten Brauch geworden, daß das Brautpaar während des Empfangs verschwindet und seine Hochzeitsreise antritt? Heute – heute gibt es festliche Mittagessen vor der Hochzeit, Festessen zur Probe, Golf, Tennis, Einkaufen, Feiern in der Bar, das Brautfrühstück am Morgen. Das muß doch jede Ehe vom ersten Tag an belasten. Wenn schon ich am Sonntag nachmittag völlig erschöpft bin, wie muß es dann erst der Braut gehen.«
    »Aber das alles ist doch gut fürs Geschäft?«
    »Na ja. Schon.« Sie lachte. »Ehrlich gesagt – ich fördere es.«
    Der Eindruck kühler Klarheit beherrschte auch Noras Privaträume. Harrison musterte die Sessel und den niedrigen Tisch mit einer Vase, einem Stapel Bücher, einer kleinen Fotografie, die vielleicht Noras Mutter zeigte, die Chaiselongue am Fenster. An einer Wand hingen Gemälde, Drucke und Fotografien, nicht bedacht gruppiert, sondern eher willkürlich, als hätte Nora sie einfach gehängt, wie es ihr in den Sinn kam und dabei jeweils den Platz genutzt, der noch da war. Es zog ihn sofort zu den Fotografien.
    »Bist du das?« Er zeigte auf das Foto eines Mannes, in dem er Carl Laski erkannte, und einer Frau, der blutjungen Nora.
    »Ja.« Sie schaute hoch. »Das war unser Hochzeitstag.«
    Nora, die aussah, als wäre sie kaum zwanzig, trug ein mit blauen und orangefarbenen Blumen bedrucktes Kleid; das lange kastanienbraune Haar war hochgesteckt. Auch Laskis Haar war lang – eine wilde Mähne. Er trug ein weißes Hemd, ein Sportsakko und Jeans. Sein Blick wirkte verschwommen, als hätte er bereits getrunken. Auf dem Foto bemerkte Harrison an Nora eine Verletzlichkeit, die er vermißt hatte, die Zartheit eines Kindes, das Geborgenheit sucht, oder einer Frau, die ihren Mann verloren hat und Trost sucht. Und er verstand plötzlich, daß sie ausgenutzt werden konnte. Er wäre am liebsten in das Foto hineingestiegen und hätte seinen Arm zwischen Nora und Carl Laski geschoben.
    »Na also«, sagte Nora, als sie ein bestimmtes Blatt Papier in einem Hefter gefunden hatte. Mit einer Frage auf den Lippen wandte sie sich Harrison zu. Einen Moment zögerte sie, dann sagte sie: »Denkst du – denkst du manchmal darüber nach, was aus Stephen geworden wäre?«
    Harrison zwang sich, nicht wegzusehen. »Wenn er noch am Leben wäre, meinst du?«
    »Ja.«
    »Ich vermute, er hätte mit einem Baseball-Stipendium in Stanford studiert, wie das ja schon geplant war, und wäre dann von den Blue Jays geholt worden. Er wäre an die Twins verkauft worden und hätte am Ende als Shortstop bei den Red Sox gespielt – vor Nomar natürlich. Stephen wäre viermaliger Gewinner des Golden Glove, hätte einen ewigen Batting Average von .301 und stünde kurz vor der Aufnahme in die Hall of Fame.«
    »War er so gut?« fragte sie.
    »O ja.« Harrison rieb mit den Fingern über die Kante eines Konsolentischs aus Mahagoni.
    »Warst du auch so gut?«
    »Nein. Ich habe nur dank Stephen gut ausgesehen. Wir beide kriegten ein Double Play besser hin als alle anderen in der Liga. Aber es lag alles an Stephen – wie er sich den Ball schnappte und sich mitten in der Luft drehte, um ihn zu mir zu feuern. Ich habe nur einen Spieler gesehen, der das ebensogut machte wie Stephen, und das war Nomar.«
    Nora setzte sich in den Schreibtischsessel. »Es ist alles so –«
    »Traurig?« fragte Harrison.
    »Das auch, ja, aber schlimmer noch. Sinnlos .«
    Ja, dachte Harrison. Absolut sinnlos. »Wenn ich an Stephen denke«, sagte er, »habe ich Angst um meine beiden Söhne.«
    »Es soll ja jetzt noch viel schlimmer sein als damals«, sagte Nora.
    »Mit dem Alkohol, meinst du.«
    »Wir – wir hatten letztes Jahr eine Gruppe Jungen hier im Ort; sie stahlen ein Auto, weil sie eine Spritztour machen wollten, gerieten ins Schleudern und knallten gegen einen Telefonmast. Einer von ihnen wurde buchstäblich enthauptet. Alle sechs sind gestorben.«
    Das Bild bedrückte Harrison. »Es ist wie ein Wunder, daß überhaupt jemand von uns

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