Eine italienische Kindheit
Speisung am Fest des heiligen Joseph. Am 19. März pflegte die Großmutter in ihrer Schenke einen großen Tisch aufzustellen und arme Leute zum Essen einzuladen. In der Mitte des Tischs stand die große irdene Schüssel, aus der sie die Suppe von getrockneten Saubohnen in großen Portionen in die Teller füllte, wozu es Rotwein in Hülle und Fülle gab. Die Austeilung der Suppe erfolgte mit einem großen Holzlöffel, was ihr zum Lohn für die mildtätige Geste, die der Löffel symbolisierte, den Namen «Cucchiara» (die mit dem Löffel) einbrachte. Unter diesem Namen war sie über viele Jahre hinweg in den unteren Schichten der Stadt bekannt. Als aktive und selbständige Frau beteiligte die Cucchiara, wie sie auchmeine Mutter nannte, keinen ihrer zwei ersten Ehemänner an der Wirtschaft, die sie, als sie zum dritten Mal heiratete, aufzugeben beschloss. Sie hatte die Schenke immer alleine betrieben, gleich ob sie verheiratet war oder nicht. Angesichts der strikten Unterordnung unter den Mann, zu der in Sizilien die Frauen gezwungen waren, war dies gar nicht so leicht gewesen. Doch durch die große Entschiedenheit und Energie, die sie an den Tag legte, erwarb sie sich allgemeinen Respekt, so dass kein Mann sie zu belästigen wagte. Für alle Fälle hatte sie jedoch unter der Theke ein Gewehr versteckt liegen, und wenn sie abends die Tür abschloss, ließ sie auch ihren Hund von der Kette, dem sie den Namen «Chi è?» – Wer da? – gegeben hatte. Klopfte jemand spätabends an die Tür, um Wein zu holen, so rief sie, bevor sie aufmachte, «Chi è?», worauf der Hund sofort in Stellung ging.
Wenn sie von ihrer dritten Heirat erzählte, fügte die Cucchiara immer auch hinzu, dass ihre Lehrmeisterin, die sie mit ihrem Zauber zum Jawort gezwungen hatte, keine schwarze, sondern nur weiße Magie praktiziere. Die weiße Magie war nämlich etwas völlig anderes als die schwarze, denn sie heilte, während die schwarze Unheil brachte. Um sich vor dem von ihr überaus gefürchteten Einfluss der schwarzen Magie zu schützen, sprach die Cucchiara gewöhnlich die Beschwörungsformel «Oggi è sabato» – heute ist Samstag – aus. Damit spielte sie euphemistisch auf den Hexensabbat an, der seinen Namen wahrscheinlich vom Ruhetag der Juden, dem Sabbat, herleitet. Der Hexensabbat war die imaginäre nächtliche Versammlung der Hexen, die an bestimmten Orten, zu denen sie sich auf Besenstielen oder in Tiergestalt begaben, zusammentrafen. Die Cucchiara wollte nie zugeben, dass ihre Lehrmeisterin auch die schwarze Magie praktizierte. Aber wie sonsthätte diese wohl dann den bösen Zauber bei der Heirat ausüben können? Schon ihr Name ließ erkennen, dass sie der schwarzen Magie huldigte, denn die Großmutter nannte sie immer die «barbagianna». Der «barbagianni» (auf deutsch die Schleiereule, lat.
Tyto alba
) ist ein nächtlicher Raubvogel aus der Spezies der
striges
wie das Käuzchen, mit dem er oft verwechselt wird. Sein Merkmal ist ein großer Kopf mit runden aufgerissenen Augen, der ihm etwas Menschliches verleiht, wie es zum Beispiel die schöne Abbildung des englischen Malers Eleazar Albin aus dem Jahr 1731 unterstreicht. Das Weibchen wurde seit ältesten Zeiten mit der Hexe in Verbindung gebracht, mit der es auch den Namen teilt (lat.
striga
, ital.
strega
). Nach einem Volksglauben verwandelten sich die Hexen in diesen Raubvogel, um schlafende Kinder anzufallen und ihnen das Blut aus den Adern zu saugen. Man glaubte, dass die Vögel böse Geister seien, die in der Nacht auf der Suche nach menschlichen Opfern herumflogen. Wenn die Cucchiara also ihre Meisterin «Barbagianna» nannte, spielte sie sicher auf ihre Überzeugung an, dass diese sich in eine Eule verwandelte, um am Hexensabbat teilzunehmen.
Eleazar Albin, Schleiereule
Auf einer Radierung Goyas aus dem Zyklus der
Caprichos
(1799) sind zwei Frauen dargestellt, die auf einem Besenstiel zum Sabbat reiten. Die eine ist alt und hässlich,die andere jung und schön. Die junge Frau legt ihre Arme, die auf diese Weise ihr Gesicht verdecken, auf die Schultern der vor ihr sitzenden Alten: Zwei nackte Körper mit einem Gesicht, dem finster schmerzverzerrten der alten Frau. Es sind zwei Hexen, aber im Titel der Radierung steht der Singular, die Unterschrift lautet ironisch:
Linda maestra
– die schöne Meisterin – mit Anspielung auf das Lehrverhältnis zwischen den beiden Hexen. In der Luft fliegt ein Raubvogel, der sehr wohl eine Schleiereule darstellen könnte. Aber es
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