Eine italienische Kindheit
einen schweren Stoß mit der Einführung des Begriffs der Ordnung und der strengen Einhaltung von Regeln. Mein Vater und mein Lehrer trugen also den Sieg über meine Mutter davon, aus deren Umkreis sich meine kindliche Vorstellungswelt entfernte, um sich immer mehr in die Richtung hin zu bewegen, die die Deutschen aufgezeigt hatten. Das Erbe meiner Großmutter ging aber nicht verloren. Es schlummerte in meinem Unterbewusstsein und führte mich, als die Zeit gekommen war, dazu, ihre Welt zum Thema meiner Forschungen zu machen. Mein Buch
Der schwangere
Mann
, das 1984 auf deutsch erschien, nimmt seinen Ausgang von einem sizilianischen Märchen mit dem Titel
Die Küchenschabe
. Es hat zum Thema den Mythos vom schwangeren und gebärenden Mann, der sich über viele Jahrhunderte hinweg durch die europäische Folklore, Literatur und bildende Kunst gezogen hat. In einem der ersten Kapitel des Buchs finden sich auch eine deutsche Übersetzung und ein historischer Kommentar zu diesem Märchen. Es erklärt sich aus dem Kontext der sizilianischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und gibt dem Protest der Frauen gegen die ihnen auferlegten gesellschaftlichen, von der Kirche festgeschriebenen Zwänge eine Stimme. Der schwangere Geistliche, der abtreiben will, um dem unerträglichen sozialen Tadel zu entgehen, dem seine imaginäre Schwangerschaft ihn aussetzt, ist die Zielscheibe dieses Märchens, das mit großem Mut und ohne moralische Vorbehalte das heikle Thema des Schwangerschaftsabbruchs behandelt und das Recht der Frauen auf eine solche Entscheidung als letzten Ausweg bei einer unerwünschten Schwangerschaft vertritt. Dieses sizilianische Märchen stellt einen der Endpunkte des alteuropäischen Motivs des schwangeren Mannes dar, der zum ersten Mal im frühen Mittelalter in einer lateinischen Sammlung von äsopischen Fabeln aus dem deutschen Raum überliefert ist. Von seinem Zentrum in Deutschland aus verbreitete sich dieser Mythos mit seiner starken weiblichen Prägung dann in ganz Europa. Auch die meisterhafte mittelhochdeutsche Schwankerzählung
Des Mönches Not
hat ihn zum Inhalt.
4. Lucca
Lucca liegt im Norden der Toskana, und es war mehr als ein Tag Bahnfahrt nötig, um von Catania dahin zu gelangen. Nach zwei kurzen Zwischenstationen in Rom und Florenz erreichten wir Ende März 1943 unser Ziel und richteten uns provisorisch in einem Hotel ein, wo wir eine Woche blieben. Dieses Hotel befand sich in einer engen Gasse und hatte ein altes Blechschild über dem Eingang, auf dem der Name stand. Zu ihm gehörte auch ein Restaurant, in dem wir die Mahlzeiten einnehmen konnten, die immer gleich waren. Schuld an dieser Eintönigkeit war der Krieg, der die Versorgung mit Lebensmitteln sehr verknappt hatte. Zum Mittagessen gab es Kaninchen, ein Tier, das ich nie gesehen, geschweige denn je gegessen hatte. Es war in einer pikanten Soße angerichtet, deren Hauptingredienzien Essig und Tomatenpüree waren, und hatte einen starken Geruch, nach dem auch die ganze Stadt roch. Abends gab es noch ein anderes für mich ganz neues Gericht, weiße Bohnen «all’uccelletto» (auf die Art von Vögelchen), ein merkwürdiger Name, der vielleicht darauf hindeutet, dass bei den Armen die Bohnen einmal Wachteln oder ähnliches Kleingeflügel ersetzen sollten, oder aber dass diese Vögelchen früher einmal zusammen mit den Bohnen serviert wurden. Die weißen Bohnen waren in Tomatensoße angemacht.
Die engen Sträßchen im alten Stadtzentrum mündeten ineinen weiten, rechtwinkligen, mit Bäumen bestandenen Platz, die Piazza Grande, wo in der Mitte das Denkmal für Maria Luigia di Borbone stand, Herzogin von Lucca von 1817 bis 1824. Ihr Name tauchte in den Gesprächen der Luccheser wegen ihrer guten Regierung, die geradezu sprichwörtlich geworden war, nicht selten auf, denn sie hatte tiefe Spuren im kollektiven Bewusstsein hinterlassen. Lucca war seit dem Mittelalter über Jahrhunderte ein unabhängiger Staat gewesen, eine oligarchische Republik von Kaufleuten und Bankiers, die so stolz auf ihre Unabhängigkeit waren, dass es ihren mächtigen Nachbarn, den Florentinern, nie gelang, die Stadt zu unterwerfen. Erst 1847, wenige Jahre vor der Einigung Italiens, wurde Lucca dem Großherzogtum Toskana mit der Hauptstadt Florenz einverleibt. Dem Denkmal der Herzogin gegenüber stand der Palazzo della Signoria, einst Sitz der republikanischen Regierung, mit den drei Bögen seiner Loggia, die sich zum Platz hin öffnete. Nicht weit von hier entfernt begann
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