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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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wurde. In einigen der von Laura Gonzenbach aufgezeichneten Märchen steht die Menschenfresserei der Hexen im Mittelpunkt. Eine eindrucksvolle Darstellung des in der europäischen Folklore verbreiteten Glaubens an die blutigen Hexenrituale findet sich auf Francisco Goyas Gemälde
Der Hexensabbat
von 1797/98: Hier versammelt sich eine Gruppe von Hexen um den Teufel in Bocksgestalt, um ihm einige Kleinkinder zu opfern. Drei schon getötete hängen an einer Stange, zwei weitere liegen tot auf dem Boden. Solche den Hexen zugeschriebene Bluttaten können die Vorsicht und die Umschreibungen meiner Großmutter erklären.
    Noch ein Wort zu Laura Gonzenbach und ihrer Sammlung von sizilianischen Märchen. Sie war 1842 als Tochter eines aus Sankt Gallen stammenden Schweizers und einer deutschen Mutter aus Elberfeld in Messina geboren worden und erhielt ihre Bildung in der dortigen deutschsprachigen protestantischen Gemeinde, als deren Pastor der Historiker und Bibliothekar Otto Hartwig berufen worden war. Dieser wurde darauf aufmerksam, dass Laura den sizilianischen Dialekt perfekt beherrschte und großes Interesse an der Folklore hatte. Sie kannte viele Märchen, wusste sie ausgezeichnet zu erzählen und hatte häufig Kontakt mit den Frauen aus dem Volk, aus deren Mund sie diese Märchen gehört hatte. Hartwig ermunterte sie, so viele dieser Märchen wie möglich aufzuzeichnen und sie aus dem sizilianischen Dialekt ins Deutsche zu übersetzen. Eine umfangreiche Sammlung dieser Märchen wurde 1870 mit einerEinleitung und ausführlichen Anmerkungen des bekannten Volkskundlers Reinhard Köhler in Leipzig gedruckt.
    Francisco Goya, Hexensabbat
    Während einiger Sommerfrischen auf dem Ätna hatte Laura Gonzenbach ein paar Bäuerinnen kennengelernt, die ihr Märchen erzählten. Später trat sie in Verbindung mit drei Märchenerzählerinnen aus Catania, die im Viertel Borgo, im höheren Teil der Stadt, lebten. Eine davon hatte ein besonders großes Repertoire und wurde deshalb ihre wichtigste Informantin. Ein merkwürdiges Geschick, dass die erste große Sammlung sizilianischer Märchen in Catania aufgezeichnet wurde, um in der Sprache der Brüder Grimm publiziert zu werden! Die Originalaufzeichnungen gingen während des verheerenden Erdbebens von Messina 1908 unglücklicherweise verloren, und nur fünf Märchen haben sich in der originalen Form erhalten. Es handelte sich immer um Zaubermärchen, und diese wurden von Frauen einer anderen, wenn auch gebildeteren Frau mitgeteilt. Auch die Hauptpersonen dieser Märchen sind gewöhnlich Frauen, deren Leben nach dem Schema des Zaubermärchens erzählt wird. Die von Laura Gonzenbach publizierte Sammlung hat deshalb eine stark weibliche Prägung, und die weiblichen Figuren, die in diesen Märchen auftreten, zeichnen sich, ganz im Gegensatz zu der Passivität und Unterordnung, zu denen die Frauen in Sizilien gezwungen waren, durch großen Stolz und außerordentlichen Unternehmungsgeist aus. Das Leben meiner Großmutter, das sich in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts abspielte, scheint einem dieser Märchen entsprungen zu sein. Es wurzelte jedenfalls in derselben Welt der Folklore, aus der auch Laura Gonzenbach ihre Märchen bezog. Deshalb erscheint der unabhängige Lebensstil dieser Frau,der in so krassem Gegensatz zur Marginalität der sizilianischen Frauen in der traditionellen Gesellschaft stand, umso bedeutsamer. Nur in der magischen Welt konnten sich die Frauen jene angesehene Stellung erwerben, die ihnen auf den anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens verschlossen war. Die Hexenprozesse des Heiligen Offiziums aus dem 16. bis 18. Jahrhundert zeigen, dass der Prozentsatz der der Hexerei angeklagten Frauen größer war als der der Männer, und wenn man die allgemeine gesellschaftliche Randstellung der Frauen und ihre Abhängigkeit von den Männern bedenkt, dann wird klar, dass die Magie ihnen eine der wenigen Möglichkeiten der Emanzipation bot. Ein fernes Echo des ungewöhnlichen Lebens meiner Großmutter erreichte mich über die Vermittlung meiner Mutter, die selbst nur deren letzte Lebensjahre miterlebt hatte. Dies aber genügte, um zu bewirken, dass meine Kindheit sich zwischen der mütterlichen, tendenziell magisch-populären Welt und der Welt meines Vaters, der nach gesellschaftlichem Fortkommen strebte, im Gleichgewicht hielt. Das Erscheinen der deutschen Soldaten versetzte der Anziehungskraft dieser magischen Welt meiner Großmutter

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