Eine italienische Kindheit
Stadt. Es handelt sich um ein Holzkreuz des 12. Jahrhunderts, um das sich im Mittelalter viele Legenden rankten: Der Gekreuzigte sollte das wahre Antlitz Jesu zeigen. Alle diese religiösen Spektakel gaben dem Dichter, dessen antiklerikale Gesinnung notorisch ist, Anlass zu einer wilden Tirade gegen die «katholischen Pfaffen». Auf dem Platz vor dem Dom hatte er auch einen Trupp von Soldaten gesehen, der sich auf Befehl eines Offiziers in Marsch setzte. Die Befehle ergingen auf deutsch, und Heine wunderte sich, dass die Soldaten ihren Kommandanten verstanden und seine Befehle ausführten. Es handelte sich in Wirklichkeit um die Schweizer Garde des Herzogtums. Heine war offenbar nicht bekannt, dass es in den italienischen Staaten keine Konskriptionen gab, weshalb gewöhnlich Berufssoldaten, oft Schweizer, in Sold genommen wurden. Heine hielt die Soldaten dagegen für Italiener und kam zur Überzeugung, dass Deutsch in Italien die militärische Befehlssprache sei. Die enge Verbindung von Klerus und Militär beeindruckte ihn sehr, doch war es die Zeit der Restauration, die unter der Führung Österreichs im Zeichen des Bündnisses von Thron und Altar stand.
Ich erinnere mich auch noch, mit welchem Erstaunen ich die breite, baumbestandene Allee auf den Stadtmauern, die in ihrer heutigen Form aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen, entdeckte. Diese Allee war von Maria Luigia di Borbone, der Fürstin auf dem Denkmal, angelegt worden. Da die etwa zwölf Meter hohen Mauern eine Länge von mehr als vier Kilometern haben und nur hier und da vonToren und Bollwerken unterbrochen werden, kann man sehr angenehm auf ihnen spazierengehen; zu Heines Zeiten befuhr man sie sogar mit der Kutsche. An mehreren Stellen eröffnet sich von hier aus eine herrliche Sicht über die Dächer und die Türme der alten Stadt. Die Erinnerung an diese Allee auf den Mauern drängte sich mir plötzlich viele Jahre später traumhaft in Aix-en-Provence wieder auf, als ich zu früher Stunde unter den hohen Platanen über den Cours Mirabeau ging, um mich zum Musée Paul Arbaud zu begeben, wo ich die unveröffentlichte Korrespondenz des Marquis Victor Mirabeau, des Vaters des berühmten Tribuns der Französischen Revolution, Graf Honoré Gabriel, einsehen wollte.
Mein Vater konnte schließlich mit Hilfe seines Freundes in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lucca, zu dem man über eine staubige, von Schlaglöchern übersäte Landstraße gelangte, eine Wohnung für uns mieten. Das Dorf hieß Antraccoli und bestand aus einer Ansammlung von Häusern, wie sie typisch für die Gegend um Lucca ist. Es handelte sich um eine rechteckige, hofartige Anlage mit einem Zugang und einem Ausgang zur Landstraße hin, in der auf der einen Seite die Häuser und auf der anderen, diesen gegenüber, die Ställe, Schuppen und Gemüsegärten lagen. Unsere Wohnung befand sich in einem großen zweistöckigen Haus, das einer unverheirateten Jungfer gehörte. Sie war eine korpulente Frau von unbestimmtem Alter, in den Vierzigern wohl, die Erminia hieß und mit ihrer alten Mutter zusammenlebte. Die beiden Frauen zogen sich in den oberen Stock zurück und überließen uns das Erdgeschoss mit vielen, mit einfachen Bauernmöbeln ausgestatteten Zimmern. Es gab also Raum genug, um uns hier bequem einrichten zukönnen. Die alte Mutter hatte keine Zähne mehr und war dazu stocktaub. Um sich ihr verständlich zu machen, musste die Tochter laut schreien. So war unser Leben in diesem Haus skandiert vom Gebrüll der beiden Frauen, die sich bei der kleinsten Gelegenheit etwas zu sagen hatten.
Die alten Stadtmauern von Lucca
In Antraccoli blieben wir sieben Monate, und diese waren von allergrößter Bedeutung für meine Entwicklung. Der Aufenthalt in der Toskana bedeutete für mich den Sprung in eine sehr viel entwickeltere Gesellschaft, als es die sizilianische war. Selbst einem Jungen wie mir fiel gleich auf, dass in diesem Bauerndorf sehr viel offenere Sitten herrschten als bei den Stadtbewohnern von Catania. Ich merkte sofort,dass die Trennung von Männern und Frauen nicht so streng und drastisch war wie in meiner Heimat. In Sizilien verkehrten die Männer in der Öffentlichkeit immer nur mit Männern, streng getrennt von den Frauen, die zu Hause bleiben mussten. Junge Mädchen sah man so gut wie nie auf der Straße, und wenn, dann immer nur in Begleitung von meist erwachsenen Angehörigen. Diese rigide Trennung der Geschlechter hob Ende des 19. Jahrhunderts auch der deutsche Konsul in
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