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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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sizilianischen Sitten hauptverantwortlich war. Während das übrige Europa im Lauf seiner historischen Entwicklung sich dieser sperrigen Überreste des Feudalsystems entledigte, blieb Sizilien gleichsam darin «fossilisiert». Hinter der Maske der Ehre verbarg sich die sexuelle Repression, die auch auf die Männer zurückfiel. Ihnen blieb außer der Ehe nur die Prostitution, die in Sizilien unerhörte Ausmaße erreichte.
    Das freie Zusammenleben der Geschlechter in Antraccoli erleichterte aber auch mir den Kontakt zu meinen Altersgenossinnen im Dorf. Für mich, der ich bisher in Sizilien gelebt hatte, wo strengste Trennung der Geschlechter herrschte, war dies ein überwältigendes Erlebnis und bildete eine Art Einführung in eine Welt, wo Männer und Frauen ihr Leben in Gemeinschaft führten. Ich bewahre noch das Foto im Postkartenformat von einem der Mädchen aus Antraccoli, das es beim Spaziergang in Lucca zusammen mit einer Verwandten zeigt. Im Hintergrund ist die Loggia des Palazzo Pretorio an der Piazza San Michele mit seiner Säulenreiheim Erdgeschoss zu sehen, auf dem Haus im Hintergrund steht der Spruch «Vincere!» – Siegen! Die Faschisten brachten solche Propaganda an allen Ecken und Enden an in der Hoffnung auf einen Sieg der Achse Rom-Berlin, der immer unwahrscheinlicher wurde. Auf der Rückseite des Fotos steht in einer ungelenken, großen Schrift geschrieben: »Siria auf dem Spaziergang mit Verwandten», und rechts, auf der für die Adresse bestimmten Seite «in der Nähe von Traccoli, LUCCA». Offenbar hatte Siria – die damals vielleicht fünfzehn Jahre alt war – das Foto meinem ältesten Bruder, mit dem sie wahrscheinlich eine Liebelei hatte, als Andenken hinterlassen, und dieser klebte es dann ins Familienalbum ein, das auf mich gekommen ist. Ihre wacklige Schrift und die falsche Schreibweise des Ortes, in dem sie geboren war, lässt erkennen, dass sie mit der Schrift nicht sehr vertraut war, was bei einem Bauernmädchen schwerlich verwundert. In dieser Hinsicht ist anzumerken, dass die gesellschaftliche Stellung meiner Familie beträchtlich höher war als die der Bauern in Antraccoli, was sich schon auf den ersten Blick am Grad der Schulbildung zeigte. Mein Vater legte allergrößten Wert auf eine gute Schulbildung für seine Söhne. Mein ältester Bruder war ein ausgezeichneter Schüler und galt in der Schule als ein Mathematikgenie. Diesen Unterschied bemerkten die Dorfmädchen natürlich sofort, uns aber erleichterte er die Beziehungen zu ihnen. Trotz ihrer Bigotterie wählten die Dorfbewohner nach alter toskanischer Tradition manchmal Namen für ihre Töchter, die nicht im Heiligenkalender standen, reine Phantasienamen. «Siria» war ein solcher, das Mädchen, das ich verehrte, hieß «Isola» – Insel.
    Siria auf dem Spaziergang in Lucca
    Jeden Sonntag wetterte der Pfarrer von der Kanzel und legteden Mädchen strenge Keuschheit ans Herz, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Mich selbst zog die Religion wenig an. Ich folgte darin dem Beispiel meines Vaters, der nie religiöses Interesse hatte erkennen lassen und der Geistlichkeit immer aus dem Weg gegangen war. So gering war sein religiöses Interesse, dass er mich erst lange nach der Geburt, mit eineinhalb Jahren, taufen ließ. Angesichts der großen Kindersterblichkeit, die damals noch herrschte, und der dringenden Empfehlung des Klerus, neugeborene Kinder so bald wie möglich zu taufen, kam diese Nachlässigkeit meines Vaters, der alle Beziehungen der Familie zur Außenwelt regelte, der religiösen Indifferenz sehr nahe. Wahrscheinlich zwang ihn das Drängen meiner Mutter, mich endlich in der erstbesten Kirche taufen zu lassen – ohne weitere Zeremonien. Als Patin berief er die erste Person, die ihm in den Sinn kam, nämlich seine Mutter. Meine Mutter hatte indessen nie den Mut gehabt, der Pfarrkirche ganz den Rücken zu kehren. Diese Kirche lag nicht weit von unserem Haus entfernt, und manchmal nahm sie mich dorthin mit. Ihr Katholizismus war allerdings durch den Einfluss ihrer Stiefmutter von Aberglauben kontaminiert. Sie war deshalb nicht sonderlich fromm, ließ ihren Kindern jedoch etwas religiösen Unterricht erteilen. Mich schickte sie zum Katechismusunterricht in die Pfarrei und ließ mich auch die Prüfung für die Erstkommunion machen. Das Ergebnis war gleich null, nur hörte ich hier zum ersten Mal von einem gewissen Martin Luther. Der Pfarrer, wenn ich mich recht erinnere, ein Kapuziner, erzählte uns, dass dieser deutsche

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