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Eine italienische Kindheit

Eine italienische Kindheit

Titel: Eine italienische Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Zapperi
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Messina, August Schneegans, in seinem 1890 auch in italienischer Übersetzung erschienenen Buch über Sizilien hervor, in dem er das Thema ausführlich behandelte. Die beiden Geschlechter, so schreibt er, lebten auf der Insel wie Wasser und Öl voneinander getrennt, auch die Frauen in den Häusern seiner sizilianischen Bekannten seien nicht einmal durchs Schlüsselloch zu sehen gewesen. Eine solche Trennung herrschte, wenn auch in abgemilderter Form, auch in meiner eigenen Familie. Wir drei Brüder hatten nur wenig Kontakt mit unseren zwei jüngeren Schwestern, die unter den schützenden Fittichen meiner Mutter in einem eigenen weiblichen Revier lebten.
    Diese Trennung hat sogar in unserem Familienalbum Spuren hinterlassen. Ich finde dort kein einziges Foto, auf dem alle fünf Geschwister zusammen oder wenigstens ein Bruder mit einer Schwester abgebildet sind. Dagegen gibt es ein Gruppenbild von uns drei Brüdern. Dieses etwas abgewetzte Foto wurde bei unserer Ankunft in Lucca aufgenommen. Der kleine Junge links bin ich, in der Mitte der älteste Bruder Clelio, der seine Hand wie zum Schutz auf meine, des Kleinsten, Schulter legt, rechts mein Bruder Arturo, der den gleichen Anzug trägt wie ich. Mein Vater hatte uns, wie erwähnt, vor der Abreise aus Catania neu einkleiden lassen. Arturound ich tragen lange Hosen und eine kurze doppelreihige Jacke, darüber einen Mantel mit glänzenden Aufschlägen, aus Atlas vielleicht, aber wahrscheinlicher aus Wachstuch, auf dem Kopf eine Mütze mit einem Vogelabzeichen, möglicherweise einem Adler. Clelio und Arturo tragen auch eine Krawatte, Arturo dazu eine Aktentasche, ein Zeichen der von meiner Mutter so sehr gepriesenen Dienstbereitschaft. Als wir älter waren, endete diese Trennung zwischen den Geschwistern, aber hier erzähle ich ja nur von unserer Kindheit. Im toskanischen Dorf war das ganz anders. Hier vermischten sich die Geschlechter ohne Scheu und lebten ihr Lebengemeinsam. Dieser offene Umgang begünstigte natürlich Liebesverhältnisse, die zwar immer sehr geheim gehalten wurden, aber doch nicht so, dass nicht etwas davon durchgesickert wäre. Dann bemerkte ich auch, dass meine älteren Brüder oft verschwanden, und als ich ihnen einmal nachspürte, entdeckte ich, dass beide sich eine Freundin zugelegt hatten. Das überraschte mich sehr, aber ich war auch sehr wütend, dass ich es nicht genauso machen konnte wie sie. Ich hatte noch nicht das richtige Alter, weshalb mich kein Mädchen aus dem Dorf – und es gab viele – für voll nahm. Ich schäumte vor Neid auf meine Brüder. Zum Trost schloss ich mich an ein viel älteres Mädchen an, das in einem Nachbarhaus wohnte. Sobald es sich blicken ließ, gewöhnlich um mit dem Vater aufs Feld zu gehen, folgte ich ihr wie ein Hündchen und versuchte ihr zu helfen, mit eher mäßigem Ergebnis. Wenn abends alle von den Feldern heimkamen und das Abendessen vorbereitet wurde, kauerte ich neben der Tür der Angebeteten und spähte ins Haus, wo in einem großen Kessel über dem Kaminfeuer die Suppe brodelte. Nie konnte ich entdecken, was es für eine Suppe war, denn nie durfte ich hereinkommen, und nicht ein einziges Mal gaben sie mir etwas zu essen. Der Duft ließ mich schließen, dass Kohl und Bohnen die Hauptingredienzien waren und die Suppe sehr köstlich schmecken musste. Mehr als einmal bat ich meine Mutter, auch für uns eine solche Suppe zu kochen, aber sie hatte keine Ahnung, woraus sie bestand, und weigerte sich. So aßen wir in der Toskana die gleichen Gerichte wie in Catania, denn meine Mutter kannte keine anderen Rezepte.
    Die drei Brüder Zapperi
    Die Bauern in Antraccoli waren aber ebenso bigott wie die Bürger von Lucca, weshalb auch der Pfarrer die jungenMädchen nicht aus den Augen ließ. Der Begriff der sexuellen Reinheit, einer der Grundpfeiler der christlichen Moral, bildete die höchste Rechtfertigung für die Trennung der Geschlechter, ein ethisches Prinzip, das sich in Sizilien mit dem herrschenden Feudalsystem aufs engste verbunden hatte. Diese Moral lastete auf der sizilianischen Gesellschaft und diskriminierte die Frauen. Feudale Usancen, die nur noch ein historisches Relikt waren, übten enormen Einfluss auf die Lebensgewohnheiten aus. Es ist eine böse Ironie, dass der Einfluss Europas, im spezifischen Fall der des Lehnswesens, in Sizilien nur negative Folgen zeitigte. Er brachte die aus jenem Gesellschaftssystem stammende Ethik der Ehre hervor, die für die ewige Rückständigkeit der

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