Eine italienische Kindheit
Mönch einen Aufruhr gemacht und das größte Schisma der Christenheit bewirkt habe, allein deshalb, weil er sich in eine Nonne verliebt habe und sie heiraten wollte. Dies war tatsächlich seineVersion. Erst viele Jahre später, während meines Studiums an der Universität, als ich mich mit der Reformation befasste, wurde mir klar, wer dieser große Deutsche wirklich gewesen war und wie entscheidend er die Geschichte verändert hatte. In der Toskana ging ich aber doch regelmäßig in die Kirche, denn die Zeremonien dort waren das einzige interessante Schauspiel, das im Dorf geboten wurde. Irgendwann fing ich an, den Pfarrer herauszufordern, wenn er nach der Messe auf den Vorplatz kam. Hier führte ich, umgeben von den Mädchen, die sich sehr amüsierten, große Diskussionen mit ihm. Ich spielte die Rolle des Ungläubigen und warf ihm vor, dass nur er sich das Recht anmaße, in der Kirche zu sprechen, während seine Pfarrkinder, darunter auch ich selbst, ihm immer nur still zuhören mussten. Ich war damals ein Junge von elf Jahren, und es machte einen gewissen Eindruck, mich so reden zu hören. Aber ich profitierte von der Immunität meines Alters, und was mich trieb, war in Wirklichkeit der Wunsch, so bald wie möglich in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden, deren Anziehungskraft ich in Antraccoli immer heftiger spürte. Der Pfarrer lächelte heimlich über mein Gerede und führte bereitwillig die Wortgefechte mit dem kleinen Buben, der ich noch war. Er verbot mir nie den Mund, obwohl er es leicht hätte tun können.
Ich muss aber gestehen, dass meine polemische Haltung noch andere, verborgenere Gründe hatte. Gleich nach unserer Ankunft im Dorf hatte mich mein Vater zum Pfarrer geführt, um zu sehen, ob ich Lateinunterricht bei ihm bekommen konnte, um die Lücken des durch unsere Abreise aus Sizilien unterbrochenen Schulunterrichts auszugleichen. Der Pfarrer schickte mich zu einem Seminaristen, dener kannte. Dieser wohnte in einiger Entfernung vom Dorf, und ich musste frühmorgens mit dem Fahrrad eine längere Strecke zurücklegen, um zu ihm zu gelangen. Jedes Mal, wenn ich ankam, saß er unter freiem Himmel vor dem Haus an einem Tischchen und frühstückte. Seine Mutter brachte ihm meist Milchkaffee und dazu mit Marsala aufgeschlagene rohe Eidotter, in die er hausgemachte, sehr verlockend aussehende Kekse eintauchte. Nie bot er mir einen davon an. Mich beunruhigte zudem sein Aussehen, das von seltsamer geschlechtlicher Unbestimmheit war, die meiner Auffassung nach davon herrührte, dass unter seinem langen schwarzen Gewand die Hosen herausschauten, wenn er die Beine übereinanderschlug. Warum trug er ein Kleid, das dem der Frauen ähnelte, wenn er doch ein Mann war? Ich fand keine Antwort auf diese Frage. Bis jetzt war ich überzeugt gewesen, dass Priester keine Hosen unter der Soutane trugen. Ich kann dem Seminaristen aber nicht das Verdienst absprechen, mir ein bisschen Latein beigebracht zu haben, so dass ich in Lucca eine Zusatzprüfung in diesem Fach ablegen konnte, aufgrund derer und der Zeugnisse aus Catania ich die erste Klasse der Mittelschule (in Deutschland wäre es die sechste Klasse gewesen) abschließen konnte. So verlor ich das Schuljahr nicht und konnte im Oktober 1943 in die zweite Klasse der Mittelschule eingeschrieben werden. Ich muss noch hinzufügen, dass die Bauern von Antraccoli sehr geizig waren. Obwohl ich in ihrem Dorf wohnte und sie manchmal aufs Feld begleitete, wo ich sogar an ihren Arbeiten teilnahm, gaben sie mir doch nie etwas von ihrem Essen ab. In den Arbeitspausen pflegten sie sich große Schnitten von schneeweißem, selbstgebackenen Brot abzuschneiden, die sie mit hausgemachtem Schinken belegten,aber für mich fiel nie auch nur ein Krümel ab. Der Pfarrer sorgte sich um die sexuelle Reinheit der Mädchen, nie jedoch verlor er ein Wort über die Todsünde des Geizes.
Im Mai ging ich eines Abends hinaus und sah überall kleine Lichter, die wie Laternen an- und ausgingen. Ich näherte mich und sah, dass es merkwürdige leuchtende Insekten waren. Jemand erklärte mir, dass es sich um Glühwürmchen handelte. Ich hatte solche Glühwürmchen in Sizilien nie gesehen, weder in der Stadt noch auf dem Land, und so machte ich wieder eine neue Entdeckung, wie ich so viele in der Toskana machte. Als Erwachsener sah ich in Rom die Glühwürmchen eines Abends in der Villa Borghese wieder, wo ihr flackerndes gelbes Licht mit den grünen Reflexen mich aufs neue bezauberte. Als ich
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