Eine italienische Kindheit
die Via Fillungo, eine schmale, lange Straße, eingezwängt zwischen alten Häusern und Türmen, auf der sich am Nachmittag die ganze Stadt zum Spaziergang drängte. Alle kannten sich und bildeten hier und da kleine Gruppen, um miteinander zu plaudern. Mehrere Stadttore in den Mauern führten aus der Stadt hinaus zu den neueren Vierteln.
Eines dieser Stadttore, die Porta Elisa, hat sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt, denn die Erinnerung an den späten Vormittag, als ich sie um die Essenszeit mit meiner Familie durchquerte, hat mich nie verlassen. Die Sonne schien, und ich trug den neuen Anzug, den mein Vater mir wie auch meinen Brüdern für die Reise gekauft hatte. Zum ersten Mal hatte ich lange Hosen an, was für mich eine Art lang ersehnteBeförderung in die Welt der Erwachsenen bedeutete. Bevor wir das Tor erreichten, gingen wir durch einen kleinen Park mit blühenden Jasminbüschen. Es hatte kurz zuvor geregnet, und die Regentropfen glänzten noch auf den Zweigen. Der Grund unseres Spaziergangs war eine kurz nach unserer Ankunft ergangene Einladung zum Mittagessen von seiten des Geschäftspartners meines Vaters, des Fabrikanten, der meinem Vater die Ware lieferte und in einer Villa außerhalb der Stadtmauern wohnte. An den großen langen Esstisch setzten wir Kinder uns spontan in der Reihenfolge unseres Alters, zuerst die drei Jungen und dann die beiden Mädchen. Unser Gastgeber war sehr erstaunt darüber, wie wir die Hierarchie des Alters respektierten. Wir waren offenbar so erzogen worden.
Weder der Fabrikant noch mein Vater waren sich in diesem Augenblick darüber klar, dass hier zwei verschiedene Gesellschaftsmodelle aufeinandertrafen, die beide ihre Wurzeln im Mittelalter hatten. Das erste ging auf die Welt der Kommunen zurück, die hervorragendste politische Schöpfung Mittel- und Norditaliens, deren lebendigstes Zentrum die Toskana gebildet hatte; auf der anderen Seite das Feudalsystem, das vor allem die Normannen aus Nordfrankreich nach Süditalien gebracht hatten. Die Normannen hatten den Süden Italiens zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert erobert und hier eine mächtige Monarchie auf lehnsherrschaftlicher Basis errichtet, deren Kernland das zuvor von den Arabern beherrschte Sizilien war. In jener fernen Zeit wurde Italien für immer in zwei Teile gespalten und der Süden mit einer oppressiven feudalen Struktur überzogen, welche die Jahrhunderte überlebte und diesen Teil Italiens vor allem wegen seines parasitären Adels in die ökonomischeRückständigkeit und die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts trieb. Die Hierarchie des Alters, die in der feudalen Institution des Majorats kodifiziert war, hatte mit der Zeit den gesamten Gesellschaftskörper erfasst und war auch in die Sitten der unteren Schichten eingedrungen, die sich mit der Zeit denen der Oberschicht anglichen.
Im Gegensatz zu den anderen Toskanern waren die Luccheser seit jeher sehr bigott und übereifrig bei der Einhaltung der Vorschriften und äußerlichen Praktiken des katholischen Glaubens. Schon Heinrich Heine war dies aufgefallen, als er sich 1828 während seiner Italienreise fast eine Woche lang in Lucca aufhielt. Er berichtet davon im vierten Teil der
Reisebilder
, die er drei Jahre später veröffentlichte. Heine konnte kein Italienisch und war deshalb nicht in der Lage, mit jemand zu sprechen – er konnte nur sehen. Doch was? Gleich zu Beginn seines Aufenthalts stieß er auf eine große Prozession mit einer Unmenge von Geistlichen und Ordensleuten, zwischen denen der Erzbischof mit seiner Mitra unter einem prunkvollen Baldachin schritt. Die Prozession wurde von mehreren Kompanien von Soldaten begleitet, deren Pfeifen und Trommeln einen Höllenlärm machten und die frommen Gesänge übertönten. Am nächsten Morgen hörte Heine zum Sturm geläutete Glocken, welche die Gläubigen zur Messe im Dom San Martino riefen. Auch er begab sich zum Dom, dessen romanische, von drei Reihen kleiner Säulen strukturierte Fassade mit dem ebenerdigen tiefen Portikus wie auch den mächtigen zinnenbesetzten Kampanile an der Seite er sehr bewunderte. Im Inneren des Doms besichtigte er die zahlreichen Gemälde und Skulpturen und wohnte auch dem feierlichen Hochamt bei, das der Erzbischof persönlich zelebrierte. Dabei hatte er Gelegenheit, derüberschwänglichen Predigt eines Mönchs mit dem kühnen Gesicht eines antiken Römers zu lauschen. Nach der Messe besuchte er die Kapelle des «Volto Santo», der berühmtesten Reliquie der
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