Eine Katze im Wolfspelz
weiteten sich vor Schreck. Sie blickte hinunter auf meine Hand. Ich merkte, daß ich das Blattsträußchen offen in der Hand hielt.
Ihr Gesicht zog sich in einem Ausdruck des Schmerzes zusammen. Sie drehte sich schnell von mir weg und kniete sich hin. Schluchzer schüttelten ihren ganzen Körper.
Das alles geschah so schnell und so unerwartet, daß ich nicht wußte, wie ich reagieren sollte.
Dann kniete ich mich neben sie und versuchte so gut ich konnte, sie zu trösten. Es war offensichtlich, daß ich Jack Tyres Geliebte gefunden hatte, die Frau, die ihm die merkwürdigen Liebesgrüße geschickt hatte.
Langsam gewann sie ihre Fassung zurück. Sie hielt das Clipboard so fest umklammert, daß ihre Finger- und Handgelenke kreideweiß geworden waren.
»Bitte. Sie müssen mir sagen, was Sie über Jack Tyre wissen. Derselbe Wahnsinnige, der ihn umgebracht hat, hat über ein Dutzend andere Menschen getötet. Sagen Sie mir, was Sie von ihm wissen.«
Sie nickte heftig. Sie fing an, tief ein- und auszuatmen. Es ging ihr wieder besser. Ich half ihr auf. Sie hakte sich bei mir ein, und wir begannen, langsam um die Biegung des Sees zu spazieren.
»Als ich diese Blätter wiedergesehen habe«, sagte sie, »mußte ich sofort an diesen wundervollen Mann denken. Es war so schrecklich. Wir waren drei Jahre lang ein Paar. Vor ungefähr einem Jahr hat er die Beziehung beendet. Ich habe nie verstanden, warum. Wir waren sehr glücklich miteinander. Irgendwann fing ich an, mich wie ein junges Mädchen zu benehmen und habe ihm ständig diese Blätter geschickt. Ich hätte nie gedacht, daß er sie aufheben würde. Aber er muß sie wohl aufgehoben haben ... sonst hätten Sie sie ja nicht finden können.«
»Er hat sie aufgehoben. Er hat sie gesammelt«, bestätigte ich.
Sie blieb stehen und schaute über das Wasser.
»Er war so ein wunderbarer Mann. So unergründlich und liebevoll und weise. Sehen Sie diese Bäume da am anderen Ufer? Das ist die Ramble, einer der einsamsten Teile des Parks. Dorthin ging er immer am Wochenende, mit seiner Katze auf der Schulter. Er hat mir erzählt, daß er ein paar von den alten Höhlen nahe am Wasser gefunden hat und daß seine Katze mit Vorliebe dort herumstreunte.
Und mittags ging er dann immer ins Metropolitan Museum. In die ägyptische Abteilung. Er liebte diesen Ort. Und die Leute dort mochten ihn sehr. Er war so etwas wie ein freiberuflicher Führer. Er wußte alles. Ich kann Ihnen überhaupt nicht sagen, was für ein feinsinniger Mann er war. Ich habe niemals jemanden wie ihn kennengelernt. Wissen Sie, wo wir uns immer geliebt haben? Bei jedem Wetter? Dort, am anderen Ufer, in der Ramble. Zuerst habe ich geglaubt, daß er nicht wollte, daß ich in seine Wohnung kam. Aber das war es nicht. Er wollte einfach nur im Park mit mir schlafen - das war alles.«
Ihr kamen wieder die Tränen. Sie lehnte ihre Wange gegen das Clipboard. Dann fuhr sie fort.
»Und dann sagte er mir plötzlich, wir könnten uns nicht mehr sehen und daß er auf irgendeine Reise gehen würde. Er machte einfach Schluß. Er hat mich nicht mal mehr gegrüßt, wenn wir uns zufällig im Park getroffen haben. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, also fing ich an, ihm diese Blätter zu schicken, wie ein dummes kleines Mädchen.«
»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«
»Nein. Es wußte ja niemand, daß wir ein Paar waren. Niemand.«
»Was für eine Reise war das, die er unternehmen wollte?«
»Das habe ich nie herausgefunden. Es war alles so merkwürdig und schrecklich. Jetzt muß ich aber gehen.«
Doch sie ging nicht. Sie fing an, mit der Hand auf das Clipboard zu klopfen. Es war ein komisches Geräusch.
»Wer sind Sie?« fragte sie plötzlich, als ob sie sich schämen würde, einer völlig Fremden, die sich nicht einmal richtig vorgestellt hatte, all das anvertraut zu haben. Oder, noch schlimmer, als ob sie sich auf eine dieser kurzen Freundschaften eingelassen hätte, die immer total enttäuschend sind.
»Ich bin Beraterin bei einer Sonderkommission der New Yorker Polizei. Unter anderem ermittle ich im Mordfall Tyre-Brüder. Aber ich bin nicht offiziell beauftragt, Sie zu befragen.«
»Was soll das heißen?« fragte sie.
Ich zuckte die Schultern. Ich antwortete nicht. Ich kam mir dumm vor. Ich hatte keine Ahnung, warum ich das gesagt hatte.
Jetzt sah sie mich prüfend an.
Vielleicht prüfte sie die Bäume auf die gleiche Weise, bevor das Team anfing, an ihnen zu arbeiten - mit Sägen, Drähten und
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