Eine Katze im Wolfspelz
Schädlingsvertilgungsmitteln.
Ich wußte, ich hätte den Mund halten sollen. Mir war klar, daß sie gerade irgendeine Entscheidung traf.
»Er führte ein Doppelleben », sagte sie ruhig.
»Was meinen Sie mit Doppelleben?«
»Nun, es gab da etwas, wovon er mir nie erzählt hat, was er vor mir geheim gehalten hat, etwas, das ihn aber stark beschäftigte ... Wissen Sie, was ich meine?«
»Drogen? Alkohol? Glücksspiel? Meinen Sie etwas in dieser Richtung?«
»O nein, das nicht«, gab sie schnell zurück.
Ich wartete darauf, daß sie weitersprechen würde. Sie schien mit der Formulierung eines Satzes zu kämpfen.
»Ich hatte das Gefühl«, sagte sie schließlich in sehr kontrolliertem Tonfall, »daß Jack und ich uns so nahe gekommen waren, daß ich über kurz oder lang hinter dieses Geheimnis gekommen wäre und daß er sich deshalb von mir befreien mußte.«
»Hat er das jemals gesagt?« fragte ich.
»Was gesagt?«
»Hat er Ihnen gegenüber das Wort ›befreien‹ benutzt?«
»Nein.«
»Aber Sie haben das so empfunden.«
»Was sollte es denn sonst gewesen sein? Warum hätte er so plötzlich Schluß machen sollen?«
»Dann haben Sie also nicht geglaubt, daß er eine Reise unternehmen wollte?«
»Nein.«
Zum ersten Mal, seit wir diesen Spaziergang am Seeufer begonnen hatten, sah ich Ruderboote auf dem Wasser. Sie kamen unter der Bogenbrücke hindurch in unser Gesichtsfeld. Es waren vier. In zweien saßen Kinder in orangefarbenen Schwimmwesten. Mir wurde bewußt, daß ich keine Ahnung hatte, wie tief der Central-Park-Lake eigentlich war. War er ganz flach oder hundert Meter tief?«
»Ich glaube«, sagte Georgina Kulaks, »Sie meinen, ich sei nur eine verlassene Geliebte ...«
Sie unterbrach sich und lachte bitter, dann fuhr sie fort: »Und Sie glauben wahrscheinlich, daß ich mir das mit Jacks Doppelleben nur einbilde und auf diese Weise versuche, das Unerklärliche zu erklären, zu entschuldigen oder in einem positiven Licht erscheinen zu lassen - den Grund dafür, daß er unsere Beziehung beendet hat. Ich weiß, daß Sie das denken. Aber Sie müssen mir glauben, ich bin eine vernünftige Frau. Und ich bin kein kleines Mädchen mehr.«
Wir blieben stehen und drehten uns um. Ich sah, wie sie zu den Männern hinüberschaute, die an der Buche arbeiteten.
»Hatte sein Bruder irgend etwas mit Jacks Doppelleben zu tun?«
»Ich glaube nicht. Aber aus irgendeinem Grund hat Jack mich immer von seinem Bruder ferngehalten.«
»Warum?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber es war auch nicht wichtig.«
»War Ihnen bewußt ... ich meine: Hatten Sie schon vor dem Ende Ihrer Beziehung das Gefühl, daß es da ein Doppelleben gab. Schließlich hat er ja offensichtlich alles versucht, damit Sie nicht in seine Wohnung kamen und seinen Bruder nicht kennenlernten.«
In ihren Augen glomm Zorn auf.
»Wollen Sie damit sagen, daß er immer im Park mit mir schlafen wollte, wie die Penner, weil er mich nicht mit in seine Wohnung nehmen wollte?«
Sie war jetzt sehr abwehrend. Unsicher. Irrational. Das merkte ich deutlich. Ich konnte sehen, wie sie sich bemühte, sachlich zu bleiben.
»Es tut mir leid, daß ich Sie angefahren habe«, sagte sie. »Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Vergessen Sie alles! Es bedeutet nichts mehr - es bedeutet gar nichts mehr. Er ist tot. Er ist nicht mehr da.«
Für einen Augenblick wirkte sie, als ob sie gleich zusammenbrechen würde. Sie klammerte sich an ihr Clipboard, bis ihre Handgelenke weiß wurden. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
Ihre Stimme war brüchig. Aber der Tonfall war ärgerlich.
»Verstehen Sie mich nicht?«
Sie fing an, auf mich zu zeigen. Sie fuchtelte mit den Fingern in der Luft herum, um ihren Worten Gewicht zu verleihen.
»Jack Tyre war nicht wie alle anderen.«
Sie fing an zu schluchzen. Sie beruhigte sich wieder. Sie schnappte nach Luft, um weitersprechen zu können.
»Er war ein wundervoller Mann!«
Dieses Mal sprach sie so laut, daß ich sehen konnte, wie einige ihrer Männer neben dem Baum sich nach dem Geräusch umdrehten. Ihre Stimme wurde lauter und lauter und immer erregter.
»Er hat mir die drei besten Jahre meines Lebens geschenkt, und jetzt verstehe ich gar nichts mehr, gar nichts mehr, außer, daß er tot ist und daß ich ihn vor seinem Tod nicht mehr sehen und mit ihm sprechen konnte.«
Sie entfernte sich mit schnellen Schritten.
»Warten Sie«, brüllte ich hinter ihr her. Ich hielt ihr das schon etwas mitgenommene Blattsträußchen hin.
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