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Eine Katze kommt selten allein

Eine Katze kommt selten allein

Titel: Eine Katze kommt selten allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Adamson
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und klatschte in die Hände, als wäre sie die Lehrerin einer Grundschulklasse und ich eine Schülerin, die im Unterricht eingeschlafen war. »Jetzt möchte ich eine Tasse Kaffee, Alice. Gehst du mit?«
    Fünf Minuten später saßen wir an einem Tisch vor einem Schnellcafe in der Eingangshalle des Citicorps-Einkaufszentrums und tranken eine heiße schwarze Brühe aus Plastikbechern. Auf dem Weg ins Einkaufszentrum hatte Jo aufgeregt drauflos geplappert. »Hast du schon mal so viel Geld gesehen, Alice?« – »Hast du gesehen, wie komisch es verpackt war?« – »Diese vielen Gummibänder! Diese vielen Hundertdollarbündel!«
    Als eine große Gruppe lärmender Kinder durch die Eingangshalle rannte, schickte Jo mich ins Cafe, um ihr noch einen Becher Kaffee und irgend etwas Süßes zu holen. Ich kam mit einem Stück Blätterteig mit Rosinen an den Tisch zurück. Jo nahm eine Plastikgabel und pickte die Rosinen aus dem Kuchen.
    »Also, jetzt hör mal gut zu, Alice Nestleton«, sagte sie. »Ich habe dich aus einem ganz bestimmten Grund angerufen. Es ging mir nicht darum, daß du die Geldbündel anstarrst oder mir einen Kaffee ausgibst. Ich weiß, daß viele Leute mich für ein wenig verrückt halten…«
    »Das stimmt nicht, Jo. Unsere gemeinsamen Bekannten haben dich sehr gern. Sie mögen dich genauso sehr, wie sie Harry gemocht haben«, erwiderte ich.
    »Ich weiß jetzt, weshalb mein armer Harry ermordet wurde. Wegen des Geldes, nicht wahr? Aber das hilft uns kein bißchen weiter, solange wir nicht wissen, wie er an dieses Vermögen gekommen ist. Denn erst wenn wir wissen, woher Harry das Geld hatte, können wir Nachforschungen anstellen, wer es darauf abgesehen hatte. Aber ich weiß eine Möglichkeit, wie wir vielleicht herausfinden können, woher Harry das Geld hatte. Er hat nie etwas fortgeworfen. Er hat sämtliche Briefe und Rechnungen und Geschäftskarten und Programmhefte von Katzen-Ausstellungen aufbewahrt, jeden Fetzen Papier. Er hat alles behalten; es ist alles noch da. Ich brauche es nur durchzusehen. Aber allein kann ich das nicht, Alice. Meine Sehkraft läßt zu wünschen übrig, und außerdem fehlt mir die nötige Geduld. Also habe ich mir gedacht, du könntest für ein paar Wochen zu mir kommen – du und deine Katzen. Ihr könntet mir helfen. Ich zahle dir zweihundert Dollar pro Tag. Dann könnten wir herausfinden, was Harry getan hat und wer ihn ermordet hat. Na, wie wär’s?«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Falls die Mörder es auf Harrys Geld abgesehen hatten – warum hatten sie sich nicht denken können, daß es in einem Schließfach deponiert war? Und vor allem: Warum hatten sie Harry dann ermordet? Sie hätten doch einen lebenden Harry gebraucht, der das Geld für sie abhebt. Nein, es mußte etwas anderes gewesen sein.
    Arme Jo! Sie sah schrecklich verletzlich aus, wie sie so dasaß; die lächerlichen Ohrenschützer baumelten ihr verdreht vom Kopf. Ich fragte mich, wie ich als alte Frau sein würde – falls ich Jos Alter erreichte.
    »Du brauchst es mir nicht sofort zu sagen. Laß dir Zeit, Alice. Du kannst mich im Hotel anrufen.«
    Wenn ich nachdenken muß – ich meine, so richtig in aller Ruhe nachdenken –, setze ich mich gern vor den Spiegel. Es ist eine Art seitenverkehrtes narzißtisches Schauspiel, das mein Hirn in Schwung bringt.
    Eine Stunde, nachdem ich mich von Jo verabschiedet hatte, starrte ich mich im Spiegel an. Wie immer hielt ich mein Erscheinungsbild für unbestimmbar. Wie immer stellte sich mir die verwirrende Frage, wer von uns beiden das Publikum war – die im Spiegel oder ich.
    Ganz unerwartet hatte ich die Wahl zwischen zwei verlockenden Angeboten. Sollte ich die Wärterin in Romeo und Julia spielen? Aber ich fühlte mich nicht mehr zum klassischen Theater hingezogen. Mich interessierten nur noch die Grenzgebiete der Schauspielkunst. Ich hätte lieber splitternackt auf der Bühne gestanden, Beaudelaires Betrachtungen über die Huren vorgetragen und dabei eine Mandarine gegessen – und alles ohne Gage. Nein, sagte ich mir. Was Carlas Angebot betraf, hatte es keine Eile. Das konnte warten.
    Jos Angebot war dringender. Sicher, auch die Bezahlung war verführerisch. Andererseits war der Gedanke, mehrere Wochen mit Jo Starobin verbringen zu müssen, alles andere als verlockend. Jos Trauer war so tief, daß niemand, der sich in ihrer Gesellschaft befand, sich dieser Trauer entziehen konnte.
    Ich betrachtete mein Haar. In der goldblonden Mähne war schon ziemlich

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