Eine Krone für Alexander (German Edition)
überrascht
auf. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge, und sie lächelte. „Ja, wir schreiben
uns immer noch regelmäßig.“
„Wie geht es ihr?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Wie es einer Frau eben so geht,
die gerade Witwe geworden ist.“
„Hat Mentors Tod sie sehr getroffen?“
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht“, gab sie zu und machte
ein besorgtes Gesicht. „Ich weiß aus ihren Briefen, dass sie eine Tochter von
Mentor hat, aber über ihn selbst hat sie nie ein Wort verloren. Es ist
leichter, unter vier Augen zu reden, als seine Gedanken Briefen anzuvertrauen,
von denen man nicht weiß, wer sie alles zu sehen bekommt. Schade, dass sie so
weit weg ist. Sie ist eine gute Freundin. Obwohl sie eine Barbarin ist.“
Kynnana grinste. „Aber das bin ich ja auch zur Hälfte, nicht wahr?“
Als Alexander hinausging, stand Audata immer noch am Fenster
und sah hinaus.
21
In Mieza herrschte Aufbruchsstimmung. Die Lehrzeit bei Aristoteles
war zu Ende, ein neuer Lebensabschnitt begann, und die Stimmung war ungeduldig
und erwartungsvoll. Die Königsjungen packten ihre Sachen zusammen und brachten
ihre Waffen auf Hochglanz, schwärmten einander von der großartigen Zeit vor,
die vor ihnen lag, und von den Heldentaten, die sie in Thrakien zu vollbringen
gedachten. Keiner von ihnen verschwendete einen Gedanken an die drei Jahre, die
sie in Mieza verbracht hatten, geschweige denn, dass einer mit Wehmut darauf
zurücksah – das war nun alles Kinderkram in ihren Augen. Auch die Lehrer und
Ausbilder machten sich zur Abreise bereit. Übungswaffen und andere Ausrüstung
wurden nach Pella zurückgeschafft, wo sie neuen Jahrgängen hoffnungsvoller Königsjungen
zur Verfügung stehen würden. Bald würde das Nymphaion verlassen sein.
In Aristoteles’ Arbeitszimmer herrschte das Chaos. Schränke
und Büchergestelle waren bereits leer geräumt. Die umfangreiche Büchersammlung
des Philosophen und seine übrigen Habseligkeiten waren in stabile Holztruhen
verpackt worden, die überall im Raum herumstanden. Ständig liefen Leute ein und
aus, um Möbel und Kisten fortzuschleppen, und störten mit Geschrei und
Gepolter. Aristoteles warf sie hinaus und schloss die Tür. In Ermangelung
anderer Sitzgelegenheiten ließen er und Alexander sich auf herumstehenden
Kisten nieder.
„Ich will dich nicht mit einer einstudierten Abschiedsrede
langweilen“, begann der Philosoph, „etwa, dass deine Erziehung nun
abgeschlossen sei und ein neuer Abschnitt in deinem Leben beginne und so
weiter. Und du musst mir auch nicht versichern, wie viel du hier gelernt hast,
wie sehr es dir in deinem zukünftigen Leben von Nutzen sein wird und wie
dankbar du mir dafür bist.“ Er erlaubte sich ein ironisches Lächeln. „Ich weiß,
dass du es wie die anderen auch kaum erwarten kannst, hier heraus und nach Thrakien
zu kommen. Aber vorher möchte ich dir etwas geben, sozusagen ein Abschiedsgeschenk.“
Aristoteles öffnete eine der Kisten und brachte nach und
nach eine Sammlung von Buchrollen zum Vorschein, jede einzelne in einem aufwendig
bemalten Lederfutteral. Er baute sie zu einem Stapel auf und reichte eine davon
Alexander.
Alexander musterte das Etui neugierig. Die Malerei darauf
stellte zwei Krieger mit flatternden Umhängen und gezückten Schwertern dar, und
dies vermittelte ihm eine Ahnung in Bezug auf den Inhalt. Er öffnete den
Verschluss und holte die Schriftrolle hervor. „Die Ilias!“
„Von mir persönlich redigiert“, erwiderte Aristoteles stolz.
„Ich habe viel Zeit und Mühe darauf verwendet, den ursprünglichen Text zu rekonstruieren.
In dreihundert Jahren Überlieferung hat er naturgemäß etwas gelitten. Außerdem
habe ich ihn mit Anmerkungen versehen, die das Verständnis erleichtern sollen.
In den drei Jahren, die ich hier verbracht habe, habe ich in meiner Freizeit
immer wieder daran gearbeitet.“
Alexander sah auf und lächelte. Seine Augen strahlten. „Das
ist ein wunderbares Geschenk!“
„Ich weiß doch, wie sehr du die Ilias verehrst.“
Alexander öffnete die Rolle und begann zu lesen. Es war eine
Stelle aus dem zehnten Gesang, von dem Aristoteles meinte, er sei schlecht in
das Ganze integriert, und sie diskutierten eine Zeit lang über das Problem.
Dann ließ Alexander die Rolle sinken und sah auf. „Was ist mit dir? Wirst du
wieder nach Athen gehen?“
„Nein, ich habe vor, noch einige Zeit in Makedonien zu bleiben.“
„Ich habe gehört, Speusippos ist krank. Vielleicht müssen
sie in der
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