Eine Krone für Alexander (German Edition)
erlaubte er seinem Freund Patroklos, an seiner
Stelle in den Kampf einzugreifen. Patroklos rettete die Schiffe und jagte die
Trojaner zur Stadt zurück, doch dabei wurde er getötet. Achilleus Kummer war
unermesslich, denn er wusste, dass er Patroklos in den Tod geschickt hatte, als
er ihn an seiner Stelle in den Kampf ziehen ließ. Er hatte seinen Freund seinem
Stolz geopfert.“
Nachdenklich sagte Alexander: „Also deshalb wollte Achilleus
Patroklos unbedingt rächen, obwohl er wusste, dass er dann selbst sterben
musste.“ Nun ergab die Geschichte plötzlich viel mehr Sinn als damals, als er
sie zum ersten Mal gehört hatte. Kein Wunder, dass Achilleus nicht mehr leben
wollte, nachdem er schuldig am Tod seines Freundes geworden war.
„Wusstest du, dass auch Achilleus einen Lehrer hatte?“,
fragte Lysimachos.
„Ja, Cheiron, den Zentauren. Meine Mutter hat mir von ihm
erzählt.“
„Richtig, aber außerdem hatte er noch einen menschlichen
Lehrer. Er hieß Phoinix und war ein alter Mann. Als die Gesandten Achilleus um
Hilfe anflehten, war auch Phoinix unter ihnen. Er riet ihm, seinen Zorn zu begraben,
doch Achilleus hörte nicht auf ihn.“
Lysimachos öffnete die Truhe, in der er seine wenigen Habseligkeiten
aufbewahrte, und holte eine abgegriffene und arg zerlesene Schriftrolle hervor.
Es dauerte, bis er die Stelle gefunden hatte, die er suchte. „Es wird Zeit,
dass du die Ilias im Original kennen lernst“, sagte er, ehe er vorzulesen
begann.
Von da an redete Lysimachos Alexander mit Achilleus an, wie
es so oft seine Mutter getan hatte. Sich selbst nannte er Phoinix, und
Alexander machte es ebenso.
5
Den ganzen Winter über trafen Erfolgsmeldungen von der Chalkidike
ein. Dort eroberte der König eine Stadt nach der anderen, und es hieß, bald
werde er Olynthos selbst angreifen, die größte und mächtigste Stadt auf der
Halbinsel. Um mehr über die Hintergründe zu erfahren, fragte Alexander
Philiskos, bei dem er Lesen und Schreiben lernte. Am nächsten Tag brachte der
Lehrer einen Unbekannten mit zum Unterricht, einen Mann mit wirren grauen
Haaren und Tintenflecken an den Fingern.
„Das ist Theopompos aus Chios“, stellte Philiskos ihn vor.
„Nimm deine Schreibtafel und komm mit. Ich werde dir etwas zeigen, was dich interessieren
wird. Theopompos ist übrigens Historiker und schreibt eine Geschichte über die
Taten König Philipps.“
„Ein ganzes Buch, nur über meinen Vater?“
„Eins?“ Theopompos lachte. „Im Moment bin ich bei Buch neunzehn.“
„Und wie viele werden es sein, wenn du fertig bist?“
„Das hängt davon ab, was dein Vater noch so alles vorhat.“
Philiskos sagte: „Theopompos ist der größte Experte, wenn es
um den König geht. Wahrscheinlich weiß er besser, was Philipp alles getan hat,
als er selbst.“
Er und Theopompos kicherten über den offenbar schon etwas
abgehangenen Witz. Inzwischen befanden sie sich in einem Teil des Palastes, in
dem Alexander normalerweise nichts zu suchen hatte. Philiskos schloss eine Tür
auf, und sie betraten einen großen, dunklen Raum. Die Luft war abgestanden.
Während der Lehrer die Läden öffnete, sagte er zu Alexander: „In diesem Raum
bewahrt der König seine Karten auf. Antipatros, der Regent, hat erlaubt, dass
ich mit dir herkomme. Also pass auf, dass du nichts anfasst. Wenn du etwas
kaputt machst, bekomme ich den Ärger.“
An den Wänden reihten sich Gestelle mit Papyros-Rollen.
Philiskos zog eine davon hervor und breitete sie auf dem großen Tisch in der
Mitte des Raumes aus. Zu dritt beugten sie sich darüber. Alexander sah farbige
Flächen, Linien und Punkte, meist unregelmäßig geformt und scheinbar
willkürlich über den Papyros verteilt.
„Hier sind wir, in Pella.“ Theopompos tippte mit dem Zeigefinger
auf einen bestimmten Punkt. „Und das hier ist Niedermakedonien, das Stammland
der Argeaden. Es zieht sich vom Olymp im Süden in großem Bogen an der Küste
entlang über die Täler des Haliakmon und des Axios bis zum Unterlauf des Strymon.
Und hier im Westen, in den Bergen, sind die obermakedonischen Fürstentümer, von
Elimeia über Tymphaia, Orestis und Eordaia bis nach Lynkestis. Früher waren
einige davon mehr oder weniger selbstständige Königreiche, doch dein Vater hat
ihre Könige abgesetzt und die Länder annektiert.“ Sein Finger beschrieb einen
großzügigen Bogen. „Weiter im Norden leben nur noch wilde Barbarenstämme, die
Illyrer hier im Nordwesten, dann die Paionen und im Osten die
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