Eine Krone für Alexander (German Edition)
Schwester? Tot? Warum? Dann verstand er, und ein Gefühl der Erleichterung
stieg in ihm hoch. „Hat sie sich umgebracht? Ich sagte ihr doch, dass sie
nichts von mir zu befürchten hat.“
Philinna sagte nur ein Wort. „Olympias.“
Nun erst verstand er wirklich.
„Wir haben eine Abmachung.“ Die ausgetüftelte Akustik des
heiligen Ortes brachte Philinnas Stimme zum Hallen. „Ich habe meinen Teil
erfüllt. Nun bist du an der Reihe.“
„Ich werde mein Versprechen halten. Dein Sohn steht unter
meinem Schutz. Ich gebe dir mein Wort als König.“
Er half ihr vom Altar herunter, dann streckte er seinem Halbbruder
die Hand hin. Arrhidaios’ Gesicht wirkte verstört, seine Augen wanderten
unruhig zu Philinna. Obwohl er nichts verstand, spürte er doch die Anspannung
aller Anwesenden, vor allem die Angst seiner Mutter. Sie nickte ihm zu, und so
nahm er Alexanders Hand und rutschte unbeholfen vom Altar.
Alexander winkte Admetos zu sich. „Geleite die Königin Philinna
und ihren Sohn zu ihren Räumen zurück. Lass sie Tag und Nacht bewachen. Du
bürgst mir persönlich für ihre Sicherheit.“
Er stürmte die Treppe hinauf, so schnell, dass seine
Begleiter ihm kaum folgen konnten, und rannte den Gang entlang. Die Tür am Ende
stand weit offen, die Flügel hingen schief in den Angeln. Die Räume dahinter
waren wie ausgestorben, und er sah die Verwüstung überall. Er musste nicht
lange suchen. Kleopatra hing von der Decke, den Kopf zur Seite geneigt, das Gesicht
von ihren aufgelösten Haaren verdeckt. Die Vorderseite ihres Chitons war mit
Blut durchtränkt.
Er hörte ein Geräusch und fuhr herum. Eine Dienerin stand in
der Tür und starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an. Ihr Gesicht war von Misshandlungen
gezeichnet. Sie nahm all ihren Mut zusammen und kam näher.
„Sie haben die Türen aufgebrochen und uns Frauen mit
Schlägen in der Ecke zusammengetrieben. Sie schrie immer wieder, sie sollten
wenigstens Erbarmen mit dem Kind haben. Doch sie töteten es auf ihrem Schoß.
Sein Blut spritzte auf sie, und sie schrie und schrie. Und sie, sie stand
daneben und lachte.“
„Olympias?“ Nur, um ganz sicher zu sein.
„Sie hielt ihr ein Seil hin und sagte, sie habe die Wahl:
Sie könne es selbst tun, oder andere würden es tun.“
Alexander sah sich suchend in dem verwüsteten Raum um, und
seine Augen fanden, was er gefürchtet hatte. Es lag in einer Ecke auf dem
Boden, wie ein Stück Unrat. Er beugte sich darüber und hob das blutgetränkte
Bündel auf. Erschüttert starrte er in das winzige, tote Gesicht eines Säuglings.
Die Frau gab einen klagenden Laut von sich und eilte auf ihn
zu. Er legte das Bündel in ihre ausgestreckten Arme, und sie drückte es an
sich, als sei es noch am Leben. Er winkte die Wachen herein. „Nehmt sie
herunter. Sie und das Kind sollen mit allen ihnen zustehenden Ehren beigesetzt
werden.“
Er stürmte aus dem Raum und lief den Gang hinunter, bog um
eine Ecke und stieß die Tür auf.
„Warum?“, schrie er. „Warum hast du es getan?“
Die Läden waren halb geschlossen. Olympias saß im Dämmerlicht
auf ihrem Sessel, nach vorn gebeugt, den Kopf gesenkt. Sie schien völlig in
sich gekehrt zu sein, wie in Trance versunken. Nur ihre Augen bewegten sich,
als er hereinstürmte.
„Muss ich dir das wirklich erklären?“, flüsterte sie.
Sie erinnerte ihn an eine ihrer Schlangen, reglos und verkrümmt,
mit reptilienhaft starrem Gesicht und kalten, ausdruckslosen Augen. Unwillkürlich
machte er einen Schritt zurück, nur fort von ihr und dem eisigen Hauch, der von
ihr herüberwehte.
„Nein, du musst es mir nicht erklären. Ich hätte wissen müssen,
dass du kein Erbarmen kennst. Nicht einmal mit dem Kind.“
„Erbarmen?“ Sie richtete sich auf. Allmählich schien sie
zurückzukehren aus der fremden Welt, in der sie versunken gewesen war, schien
aufzutauchen wie ein Schwimmer, der die Wasseroberfläche durchbricht und ins
grelle Sonnenlicht blinzelt. Ihre Haltung und ihre Züge verloren die
schlangenhafte Starre, und sie verwandelte sich wieder in eine Kreatur mit
warmem Blut.
„Welches Erbarmen hätte sie mit uns gehabt? Oder Attalos –
glaubst du, er hätte auch nur einen Augenblick gezögert, wäre er an deiner
Stelle gewesen? Er hätte dich sofort hinrichten lassen, und dann hätte er uns
alle nacheinander umgebracht, mich und deine Schwestern und Philipps schwachsinnigen
Bastard.“
„Falls du Arrhidaios meinst, er ist jetzt sicher vor dir.“
Sie lächelte böse.
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