Eine Krone für Alexander (German Edition)
der
Quelle des Vergessens trinken, damit der Geist frei wird für die Worte des
Gottes. Später, nachdem man das Orakel befragt hat, trinkt man aus der Quelle
des Erinnerns, damit man sich, nun ja, wieder erinnern kann. Aber erst mal
steigt man zur Orakelstätte hinauf. Sie liegt auf einem Berg.“
„Es heißt, dort befindet sich einer der Eingänge zur Unterwelt.“
„So sieht es auch tatsächlich aus. Auf dem Berg ist eine
tiefe Grube. Sie lassen eine Holzleiter hinunter, damit man in sie hinabsteigen
kann. Unten auf der Sohle befindet sich ein schmaler Erdspalt, in den man sich
hineinzwängen muss. Ich steckte bereits halb drin, als mich von innen eine unbekannte
Kraft packte, eine Art Sog, wie ein Strudel in einem reißenden Fluss. Es war,
als ob ich regelrecht in das Loch hineingesaugt wurde. Dann war ich in einer
Höhle.“
Amyntas brach ab und starrte entrückt vor sich hin.
Ungeduldig fragte Alexander: „Was war in der Höhle?“
„Ich habe nur noch verschwommene Erinnerungen daran. Es war
dunkel, aber es muss auch Licht gegeben haben, denn ich sah Schlangen, die auf
mich zukrochen. Um sie zu besänftigen, warf ich ihnen die Honigkuchen vor, die
man eigens zu diesem Zweck mitnimmt. Eine Stimme sprach zu mir, aber ich weiß
nicht, was, und auch nicht, wer gesprochen hat. Oder wie ich aus der Höhle
wieder herausgekommen bin. Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf einem Stuhl,
oder eher auf einer Art Thron, während Priester mir Fragen stellten. Die
Priester deuten das, was man in der Höhle erlebt hat, und verkünden einem dann
den Orakelspruch.“
Wieder ritten beide eine Zeit lang schweigend nebeneinander
her. Schließlich fragte Alexander vorsichtig: „Hast du eine Antwort auf deine
Frage bekommen?“
„Ja.“
„Hat sie dir weitergeholfen?“
„Nein.“
3
„Es gibt zwei Nachrichten aus Asien“, sagte Antipatros und
wedelte mit zwei Schriftrollen. „Eine gute und eine schlechte. Welche willst du
zuerst hören?“
„Die gute“, seufzte Alexander und setzte sich. Antipatros
nahm ebenfalls Platz und schob ihm eine der beiden Schriftrollen über den
Tisch. „Von Parmenion.“
Endlich! Alexander öffnete das Schriftstück und las. Der
Feldherr sprach ihm sein Beileid zum Tod seines Vaters aus und versicherte ihn
zugleich seiner rückhaltlosen Loyalität. Unter all den offiziellen Phrasen
waren aufrichtige Betroffenheit und Trauer zu spüren, denn Parmenion war einer
von Philipps ältesten und engsten Freunden gewesen. Das Einzige, was Alexander
irritierte, war der Umstand, dass die Botschaft erst jetzt eingetroffen war.
Angesichts ihrer Wichtigkeit hätte er früher mit ihr gerechnet. Vielleicht war
der Wind ungünstig gewesen. Oder aber Parmenion hatte sich Zeit gelassen, um zu
überlegen, auf welche Seite er sich schlagen sollte.
Antipatros reichte Alexander die zweite Rolle. „Hekataios
hat einen ersten Bericht geschickt.“
Philipps Statue war wohlbehalten in Ephesos eingetroffen.
Wie vorgesehen würde sie demnächst im Heiligtum der Artemis aufgestellt werden.
Man rechnete mit lebhafter Anteilnahme der Bevölkerung. Es folgte eine
detaillierte Schilderung der Opferzeremonien, Prozessionen und anderen
Festlichkeiten, die im Zusammenhang mit der frommen Stiftung geplant waren.
„Und sonst?“, fragte Alexander und legte die Rolle wieder
hin. Die eigentliche Botschaft war natürlich nur mündlich übermittelt worden.
„Die Nachricht vom Tod des Königs … deines Vaters hat, wie
nicht anders zu erwarten, große Bestürzung bei unseren Truppen in Asien ausgelöst.
Doch Parmenion hat die Lage unter Kontrolle. Als deine Proklamation zum König
gemeldet wurde, ließ er im Heerlager Wein ausgeben und die Männer auf dein Wohl
trinken.“
Das hörte sich gut an. Andererseits … Hekataios konnte
selbst unter günstigsten Umständen erst etliche Tage nach der Nachricht von
Philipps Tod im Heerlager eingetroffen sein. Wenn er in so kurzer Zeit eine Nachricht
hatte schicken können, warum dann nicht auch Parmenion?
Antipatros fuhr fort: „Hekataios hat unter vier Augen mit
ihm gesprochen. Wie erwartet zieht Parmenion es vor, das Problem mit Attalos
auf gütlichem Weg zu lösen. Er möchte zwischen dir und seinem Schwiegersohn
vermitteln.“
„Und Attalos selbst?“
„Das ist die schlechte Nachricht. Äußerlich verhält er sich
ruhig, unter der Hand aber lässt er verbreiten, der rechtmäßige Thronerbe sei
der Sohn seiner Nichte ...“
Alexander machte ein ungläubiges
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