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Eine Krone für Alexander (German Edition)

Eine Krone für Alexander (German Edition)

Titel: Eine Krone für Alexander (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elfriede Fuchs
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Göttlichen,
aber sind damit wirklich die Götter gemeint, wie wir sie verehren? Wie wir sie
zum Beispiel aus der Ilias kennen?“
    „Bei Homer und den anderen Dichtern erscheinen die Götter
fast wie Menschen“, erwiderte Aristoteles. „Sie sind zwar unsterblich und
unendlich viel mächtiger als wir Menschen, aber ansonsten verhalten sie sich
nicht viel anders. Sie empfinden Hass und Neid, Eifersucht und Rachsucht, sie
lügen und betrügen und verwickeln sich in kleinliche Intrigen. So hat der
berühmte Philosoph Xenophanes aus Kolophon vor etwa zweihundert Jahren den
Dichtern vorgeworfen: Alles haben Homer und Hesiod den
Göttern zugeschrieben, was es bei den Menschen an Tadelnswertem gibt: stehlen
und ehebrechen und einander betrügen.“
    „Soll das heißen, dass das, was Homer über die Götter sagt,
nicht wahr ist?“, fragte Alexander.
    „Dies ist keine Frage von Wahrheit oder Unwahrheit. Bei den
Dichtern kommt eine Auffassung von Göttlichkeit zum Ausdruck, die ihrer Zeit
und ihrem Wissensstand entspricht. So repräsentieren die Götter bei Homer oft
Vorgänge, die im Inneren des Menschen stattfinden. Ihr alle kennt die berühmte
Szene im ersten Gesang der Ilias, wenn Achilleus zu seinem Schwert greift, um
Agamemnon niederzustechen, der ihn soeben tödlich beleidigt hat.“
    Aristoteles machte eine kurze Pause, um seinen Zuhörern Gelegenheit
zu geben, sich die Szene vor Augen zu rufen. Sie alle waren von klein auf mit
Ilias und Odyssee vertraut.
    „Achilleus greift also zu seinem Schwert und ist im Begriff,
es aus der Scheide zu ziehen, da tritt Athene zu ihm, sichtbar nur für ihn
allein. Sie mahnt ihn, seinen Zorn zu beherrschen. Also stößt er das Schwert
wieder in die Scheide zurück. Scheint Athene in dieser Szene nicht Achilleus’
inneren Entscheidungsprozess zu symbolisieren, sozusagen die Stimme seiner
Vernunft? Wenn man so will, kann man die Intervention der Göttin hier als Element
der homerischen Psychologie interpretieren.“
    Alexander widersprach. „Symbolisiert Athene nur die Stimme
der Vernunft? Oder ist in diesem Augenblick wirklich ein übermenschliches Wesen
zu Achilleus gekommen? “
    Hephaistion mischte sich ein: „Vielleicht ist Athenes Eingreifen
der Ausdruck des Göttlichen, das in Achilleus selbst ist.“
    „Das ist ein interessanter Gedanke“, meinte Aristoteles. „Tatsächlich
haben viele Philosophen pantheistische Konzepte vertreten, also die
Vorstellung, dass das Göttliche den gesamten Kosmos durchdringt und auch in uns
Menschen wohnt, ebenso in Tieren und Pflanzen und sogar in unbelebten Objekten.“
    Alexander ließ jedoch nicht locker. „Das ist nicht das, was
ich meine. Existieren die Götter nur in der Einbildung der Menschen? Oder gibt
es sie tatsächlich? Nicht als diffuses Prinzip des Göttlichen, sondern als
eigenständige Wesen? Existieren Gottheiten wie Zeus und Athene, Artemis und
Dionysos wirklich?“
    „Wenn sie existieren, dann tun sie es ganz sicher unabhängig
davon, ob wir an sie glauben oder nicht“, meinte Aristoteles nüchtern. „Aber
das eigentliche Problem ist das Bild, das wir von ihnen zeichnen, und das entspricht,
wie das Beispiel der Dichter gezeigt hat, ganz bestimmt nicht immer der
Realität. Wie aber sind die Götter wirklich? Wir
wissen es nicht, denn es entzieht sich der Empirie und damit jeder
Beweisbarkeit.“
    Schüchtern meldete sich Hektor zu Wort. „Heißt das, dass
wir, wenn wir die Götter verehren, dass wir … nun, dass unsere Opfer und Gebete
gar keinen Sinn haben?“
    „Das heißt es nicht“, stellte Aristoteles klar.
„Religiosität und Frömmigkeit haben durchaus ihre Berechtigung, solange sie
nicht in Aberglauben und Hokuspokus abgleiten.“
    „Aber jeder weiß doch, dass es so etwas wie Zauberei
wirklich gibt!“, mischte sich Kassandros ein und warf Alexander einen giftigen
Blick zu, den dieser verachtungsvoll ignorierte.
    „Du meinst, Liebeszauber und
Verwünschungen und Geisterbeschwörungen?“ Aristoteles lachte geringschätzig.
„Es gibt viele Wege, seinen Mitmenschen zu schaden, durch Pflanzen und andere
schädliche Stoffe, von denen ihr einige schon auf unseren Exkursionen kennen
gelernt habt. Aber Zauberei besitzt keine reale Grundlage. Oder glaubt ihr
etwa, dass mächtige Geister und Dämonen sich von uns schwachen Menschen für
ihre Zwecke einspannen lassen?“
    Eines Tages war Hephaistion längere Zeit wie vom Erdboden
verschluckt und kam erst kurz vor dem Schlafengehen wieder zum Vorschein.

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