Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Strümpfe erwähnen, doch sonst fast nichts, das mit nacktem Fleisch in Berührung kam.
Hinter den Kulissen ging es aber doch ein bisschen lustvoller zur Sache, als wir manchmal meinen. Als es ab Mitte des Jahrhunderts chemisch hergestellte Farben zu kaufen gab, von denen einige sehr kräftig und bunt waren, wurden sie mit als Erstes für Unterwäsche verwendet, für viele ein Skandal, weil sich damit die offensichtliche Frage stellte, wem zum Ergötzen all diese Farbe dienen sollte. Unterwäsche zu besticken wurde ähnlich beliebt und rief keine geringere Empörung hervor. In ebender Woche, in der das Englishwoman's Domestic Magazine die Mädchenschule lobte, in der junge Damen eine mörderische Woche lang in Korsetts eingeschnürt bleiben mussten, zeterte es: »Die viele Stickerei an Unterwäsche heute ist sündig. Eine junge Dame verbrachte einen Monat lang damit, ein Kleidungsstück mit Hohlsäumen und Stickereien zu versehen, das kaum ein anderes menschliches Wesen sieht als ihre Wäscherin.«
Eines hatten die viktorianischen Damen nicht: einen Büstenhalter. Die Korsett, die von unten alles hochschoben, stützten zwar die Brüste, doch wirklich bequem (hat man mir gesagt) ist es nur, wenn man die Brust in Schlingen hängt. Das sah als Erster ein Hersteller von Damenunterwäsche aus Camden in New Jersey. Luman Chapman besorgte sich 1863 ein Patent für »Brustaufbauscher« — eine Art frühen Bustier mit Nackenträger. Danach wurden in den Vereinigten Staaten zwischen 1863 und 1969 genau 1230 BHs patentiert.
Und mit diesem stolzen Rekord vor Augen gehen wir weiter ins Kinderzimmer.
Achtzehntes Kapitel
Das Kinderzimmer
I.
Anfang der 1960er Jahre behauptete der französische Historiker Philippe Aris in seiner enorm einflussreichen Geschichte der Kindheit etwas Verblüffendes: Bis zum sechzehnten Jahrhundert mindestens! — habe es so etwas wie Kindheit gar nicht gegeben. Gewiss, Kinder seien kleine Menschen gewesen, doch ihr Leben habe sich von dem der Erwachsenen nicht grundsätzlich unterschieden. »Die Vorstellung von Kindheit existierte nicht«, verkündete Aris mit einer gewissen Endgültigkeit. Sie sei im Prinzip eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts.
Aris war kein Spezialist auf dem Gebiet, und seine Ideen gründeten sich fast ausschließlich auf indirekte Beweise, die heute großteils angezweifelt werden, doch damals fanden seine Ansichten großen Anklang und weite Verbreitung. Bald erklärten auch andere Historiker, dass Kinder in den vormodernen Gesellschaften nicht nur nicht beachtet, sondern nicht einmal sehr gemocht wurden. »In der traditionellen Gesellschaft begegneten Mütter Entwicklung und Wohlergehen von Kindern unter zwei Jahren mit Gleichgültigkeit«, behauptete Edward Shorter in der Geburt der modernen Familie (deutsch 1977) und führte als Grund die hohe Sterblichkeitsrate bei Säuglingen an: »Man konnte sich nicht erlauben, ein kleines Kind zu lieben, denn man wusste, dass es jederzeit vom Tod hinweggerissen werden konnte.«
Barbara Tuchman wiederholte diese Ansicht zwei Jahre später in ihrem Bestseller Der ferne Spiegel (deutsch 1980). »Von allen Eigenheiten, in denen sich das Mittelalter von der heutigen Zeit unterscheidet«, schrieb sie, »ist keine so auffallend wie der vergleichsweise Mangel an Interesse für Kinder.« In kleine Kinder Liebe zu investieren sei so riskant — »wenig lohnend«, sagte sie komischerweise —, dass man es als sinnlose Vergeudung von Energie überall unterdrückt habe. Gefühle hätten keinerlei Rolle gespielt. Tuchmans ernüchternder Ansicht nach waren Kinder lediglich »ein Produkt«. »Ein Kind wurde geboren und starb, und ein anderes nahm seinen Platz ein.« Oder, wie Ariés meint: »Allgemein, und zwar sehr lange, meinte man, dass man mehrere Kinder bekam, um ein paar zu behalten.« Diese Thesen wurden unter Kindheitshistorikern gang und gäbe, und zwanzig Jahre verstrichen, bis jemand fragte, ob sich darin nicht doch ein ernsthaftes Missverständnis der menschlichen Natur, wenn schon nicht der bekannten historischen Fakten widerspiegelte.
Natürlich starben Kinder früher sehr häufig, und Eltern mussten sich darauf einstellen. Natürlich war die Welt vor der Moderne ein Ort der winzigen Särge. Die gemeinhin angeführten Zahlen behaupten, dass ein Drittel der Kinder im ersten Lebensjahr starb und die Hälfte ihren fünften Geburtstag nicht erlebte. Selbst in den besten Häusern ging der Tod ein und aus. Stephen Inwood weist
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