Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
aber die meisten Frauen dauernd Kinder kriegten (sieben bis neun im Durchschnitt), erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit dramatisch, nämlich eins zu acht, dass eine Frau irgendwann bei einer Geburt starb.
Die Kinder waren in den ersten Jahren extrem gefährdet. Gewiss waren Krankheiten und Seuchen eine ständige Bedrohung, doch viel häufiger gab es tödliche Unfälle — ja, unglaublich viel häufiger sogar. Gerichtsdokumente aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert verzeichnen, wie abrupt das Leben eines Kindes enden konnte: »in einer Grube ertrunken«, »von der Sau gebissen«, »in Topf mit heißem Wasser gefallen«, »von Karrenrad getroffen«, »in Trog mit heißem Futterbrei gefallen«, »in Menschenmenge zu Tode getrampelt« und dergleichen mehr. Emily Cockayne erzählt die traurige Geschichte eines kleinen Jungen, der seinen Freunden einen Spaß bereiten wollte, sich auf einen Weg legte und mit Stroh bedeckte. Ein vorbeifahrender Karren zerquetschte ihn.
Aris und seine Anhänger sahen solche Sterbefälle als Beweis für elterliche Nachlässigkeit und fehlendes Interesse am unbeschadeten Aufwachsen ihrer Kinder, doch damit legt man moderne Maßstäbe an Verhaltensweisen unter historisch anderen Bedingungen an. Man darf nämlich nicht vergessen, dass eine Mutter im Mittelalter ständig mit allem Möglichen beschäftigt war. Vielleicht kümmerte sie sich gerade um ein krankes oder sterbendes Kind, hatte selbst hohes Fieber, mühte sich ab, ein Feuer zu entzünden (oder eines zu löschen), oder war mit tausend anderen Dingen beschäftigt. Wenn Kinder heute nicht mehr von Säuen totgebissen werden, dann nicht, weil sie besser beaufsichtigt werden, sondern, weil wir Säue nicht mehr in Küchen halten.
Recht viele moderne Schlussfolgerungen basieren außerdem auf Sterblichkeitszahlen, die heute als gar nicht mehr so gesichert gelten. Der Erste, der sich die Sache einmal sorgfältiger anschaute, war der Mathematiker und Astronom Edmond Halley, dessen Name heute natürlich wegen des nach ihm benannten Kometen noch bekannt ist. (Dabei entdeckte er ihn nicht, sondern erkannte nur, dass es derselbe Komet war, der schon drei Mal gesehen worden war. Der Halley'sche Komet bekam seinen Namen erst nach Halleys Tod.)
Halley erforschte unermüdlich ein ganzes Spektrum wissenschaftlicher Phänomene und verfasste Artikel dazu, vom Magnetismus bis zu den schlaffördernden Wirkungen von Opium. 1693 stieß er auf Zahlen zu den jährlichen Geburten und Todesfällen in Breslau, dem heutigen Wroclaw, die ihn faszinierten, weil sie so ungewöhnlich vollständig waren. Mit ihnen entwickelte er Statistiken, anhand derer sich die Lebenserwartung eines Menschen errechnen ließ, und zwar präzise für jedes Alter. Einem Fünfundzwanzigjährigen konnte er sagen, dass für ihn die Wahrscheinlichkeit, im folgenden Jahr zu sterben, bei 1:80 lag; dass jemand, der das Alter von dreißig erreicht hatte, mit einigem Recht erwarten konnte, noch siebenundzwanzig Jahre zu leben; dass die Chancen eines vierzigjährigen Mannes, noch sieben Jahre zu leben, 5,5:1 waren und so weiter. Es waren sozusagen die ersten versicherungsmathematischen Statistiken, und abgesehen von allem anderen wäre die Lebensversicherungswirtschaft ohne sie gar nicht möglich gewesen.
Halleys Erkenntnisse wurden in den Philosophical Transactions of the Royal Society, einem naturwissenschaftlichen Journal, veröffentlicht und scheinen aus dem Grund der geneigten Aufmerksamkeit der Sozialhistoriker entgangen zu sein, was schade ist, weil sie hochinteressant sind. Die Zahlen zeigen zum Beispiel, dass in Breslau siebentausend Frauen im gebärfähigen Alter wohnten, jedes Jahr aber nur eintausendzweihundert Kinder gebaren — »wenig mehr als ein sechster Teil«, notierte er. Offenbar wusste die große Mehrheit der Frauen Maßnahmen zu ergreifen, die eine Schwangerschaft verhinderten. Kinder zu kriegen war also zumindest in Breslau keine unausweichliche Bürde, in die sich die Frauen schicken mussten, sondern weitgehend freiwillig.
Halleys Berechnungen zeigen auch, dass die Säuglings- und Kindersterblichkeit nicht ganz so verheerend war, wie man heute auf Grund der angegebenen Zahlen immer meint. In Breslau starb etwas mehr als ein Viertel der Kinder im ersten Lebensjahr, vierundvierzig Prozent erlebten ihren siebten Geburtstag nicht.
Natürlich sind das schreckliche Zahlen, doch Gott sei Dank besser als die Vergleichszahlen von einem Drittel und der Hälfte, die
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