Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Opferbereitschaft und Keuschheit damit assoziierten. Das Englishwoman's Domestic Magazine, das populäre Periodikum für Damen jener Zeit, bemerkte 1866 voller Anerkennung, dass die Zöglinge eines Mädcheninternats montagmorgens in ihre Korsette geschnürt wurden und bis Samstag eingekastelt blieben. Dann durften sie die Stangen eine Stunde lang »zum Zwecke der Reinigung« lockern. Dank dieser Regelung, wusste man weiter zu berichten, konnten die Mädchen ihre Taillenweite in zwei Jahren im Durchschnitt von achtundfünfzig auf dreiunddreißig Zentimeter verringern.
Das Bemühen, den Leibesumfang um fast jeden Preis herunterzufahren, war also durchaus vorhanden, doch der heute noch bestehende Glaube, dass Frauen sich operativ Rippen entfernen ließen, um ihre Taille noch besser zusammenschnüren zu können, ist Gott sei Dank ein Mythos. In dem wissenschaftlich bezaubernd präzisen Das Korsett: eine Kulturgeschichte schreibt Valerie Steele, sie habe keinerlei Beweise dafür gefunden, dass auch nur eine Operation durchgeführt worden sei, schon allein deshalb, weil die Operationstechniken im neunzehnten Jahrhundert noch gar nicht so weit waren.
Für Ärzte müssen die engen Korsetts in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein rotes Tuch gewesen sein. Offenbar gab es kein System im Körper, das unter der einengenden Wirkung von Schnüren und Fischbein nicht heftig litt oder sogar zusammenbrach. Das Herz konnte nicht frei schlagen, was zu Blutstau führte. Sogenanntes träges Blut wiederum führte zu fast einhundert bekannten Leiden — Inkontinenz, Verdauungsstörungen, Leberversagen, »congestiver Hypertrophie der Gebärmutter« und Verlust der geistigen Kräfte, um nur ein paar zu nennen. In der Lancet warnte man regelmäßig vor den Gefahren der engen Korsetts und kam zumindest einmal zu dem Schluss, dass eine Frau deshalb den Tod gefunden hatte, weil ihr Herz nicht richtig schlagen konnte. Manche Ärzte waren überdies der Ansicht, dass eng geschnürte Unterwäsche Frauen anfälliger für Tuberkulose machte.
Zwangsläufig wurde dem Korsetttragen auch eine sexuelle Komponente zugeschrieben. Der Tonfall der Literatur, die sich dagegen aussprach, dass Frauen Korsett tragen sollten, war auffallend ähnlich demjenigen der Antimasturbationsliteratur für Männer. Man fürchtete nämlich, dass es zu einer tragischen Zunahme »amouröser Begierden« und womöglich sogar unfreiwilliger »sinnlicher Spasmen« kommen werde, wenn die Korsetts den Blutzufluss zu den Organen in der Nähe der Fortpflanzungsorgane verlangsamten und diese zusammenpressten. Allmählich entwickelten sich Ängste um alle Teile des Körpers, die eng bekleidet wurden. Selbst eng sitzende Schuhe, meinte man, konnten gefährliches Kribbeln hervorrufen, ja sogar einen ausgewachsenen Krampf, bei dem man nur noch schlotterte und rasselte. om schlimmsten Falle konnten Frauen durch ihre Kleidung sogar geistig zerrüttet werden. Von Orson Fowler stammt das Werk mit dem verführerischen Titel Das enge Schnüren. Kritische Beiträge zur Physiologie und Phrenologie; oder zu den Übeln, die Körper und Geist auferlegt werden durch Stauchen der elementaren Lebensorgane, die die Lebensfunktionen hemmen und schwächen. Darin legte Fowler die Theorie dar, dass die unnatürliche Beeinträchtigung der Blutzirkulation zusätzliches Blut in das Gehirn der Frauen pumpe, was zu einer permanenten, beunruhigenden Veränderung der Persönlichkeit führen könne.
Wirklichen Schaden konnten die engen Korsetts bei der Entwicklung der Babys anrichten. Viele Frauen trugen gefährlich weit in die Schwangerschaft hinein Korsette, ja schnürten sie sogar fester, um die verräterischen Beweise so lange wie möglich zu verbergen, dass sie an einem Ausbruch unanständiger »sinnlicher Spasmen« beteiligt gewesen waren.
Viktorianische Schicklichkeitsregeln waren so streng, dass es Damen nicht erlaubt war, in gemischter Gesellschaft Kerzen auszublasen, weil sie dazu die Lippen anzüglich hätten spitzen müssen. Damen sollten auch nicht sagen, sie gingen »zu Bett« — eine zu stimulierende Vorstellung —, sondern mussten »sich zurückziehen«. Letztendlich wurde es unmöglich, selbst in ärztlichen Zusammenhängen über Kleidung zu sprechen, ohne dass man zu Euphemismen griff. Hosen wurden zum »unteren Integument« oder schlichter zu den »Unaussprechlichen«, und Unterwäsche war »Leinen«. Untereinander konnten Frauen ihre Unterröcke oder mit gedämpfter Stimme
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