Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Gefängnis verurteilt, weil sie ein Mädchen die Treppe hinuntergestoßen hatte, das daraufhin gestorben war. Trotzdem gehörten körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch zum Alltag.
In der Praxis konnten die Arbeitshäuser immer nur eine gewisse Anzahl Menschen aufnehmen — nicht mehr als etwa ein Fünftel der Armen Englands gleichzeitig. Der Rest der Bedürftigen im Lande musste mit »Außerhausunterstützung« leben — kleinen Summen, die zur Miete und zum Essen beitragen sollten. Diese überhaupt in Empfang zu nehmen wurde manchmal grotesk schwer gemacht. C.S. Peel schreibt, dass ein Schäfer in Kent »ein ehrlicher, fleißiger Mann, nicht durch eigene Schuld arbeitslos« — jeden Tag über vierzig Kilometer laufen musste, um die kärgliche Summe von einem Shilling und Sixpence für sich, seine Frau und die fünf Kinder abzuholen. Der Schäfer unternahm diesen täglichen Gewaltmarsch neun Wochen lang, dann brach er vor Hunger und Schwäche zusammen. In London beschied man eine Frau namens Annie Kaplan, die nach dem Tod ihres Mannes ihre sechs Kinder allein großziehen musste, sie könne mit der mageren Summe, die sie bekommen werde, keine sechs Kinder ernähren und möge zwei nennen, die ins Waisenhaus kommen sollten. Kaplan weigerte sich. »Wenn vier hungern, hungern sechs«, erklärte sie. »Wenn ich für vier ein Stück Brot habe, habe ich auch eins für sechs [...] Ich gebe keines der Kinder weg.« Die Behörden drängten sie, es sich noch einmal zu überlegen, und als sie das nicht tat, strichen sie die Unterstützung komplett. Was aus ihr und den Kindern wurde, ist unbekannt.
Einer der wenigen, der mit der Not der Armen fühlte, war interessanterweise jemand, von dem man es nicht erwartet hätte. Friedrich Engels kam 1842 mit einundzwanzig Jahren nach England, um in der Textilfirma seines Vaters in Manchester zu arbeiten. Ermen & Engels produzierten Nähgarn. Obwohl der junge Engels ein loyaler Sohn und einigermaßen gewissenhafter Geschäftsmann war — er wurde schließlich Teilhaber —, veruntreute er lange Zeit regelmäßig bescheidene Summen, um seinen Freund und Mitstreiter Karl Marx in London zu unterstützen.
Eigentlich passen diese beiden Männer nicht so recht zu einer asketischen Bewegung wie dem Kommunismus. Engels wünschte zwar den Niedergang des Kapitalismus ernsthaft herbei, wurde aber dank seiner reich und führte ein angenehmes Leben. Er hatte einen Stall mit Rassepferden, nahm an Wochenenden an Fuchsjagden teil, trank die besten Weine, hielt sich eine Geliebte, verkehrte in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen Manchesters (zum Beispiel im vornehmen Albert Club) — mit einem Satz, er lebte ganz so, wie man es von einem wohlhabenden Mitglied des gehobenen Bürgertums erwarten würde. Marx hingegen prangerte die Bourgeoisie permanent an, lebte aber, so gut es ihm nur möglich war, ein bourgeoises Leben. Er schickte seine Töchter auf Privatschulen und prahlte bei jeder Gelegenheit mit der adligen Herkunft seiner Frau Jenny.
Dass Engels Marx geduldig unterstützte, war eine wunderbare Sache. Im weltbewegenden Jahr 1851 nahm Marx zwar einen Job als Auslandskorrespondent für die New York Daily Tribune an, doch Artikel zu schreiben hatte er nicht vor. Sein Englisch war nicht gut genug. Engels sollte für ihn schreiben und er das Honorar kassieren. Und so kam es auch. Aber selbst damit reichte das Einkommen nicht für seinen sorglos extravaganten Lebensstil, und er bat Engels, in der Firma Geld für ihn abzuzweigen. Und das tat Engels mit beträchtlichem persönlichen Risiko jahrelang.
Wenn Engels nicht die Fabrik leitete und Marx aushalf, interessierte er sich aufrichtig für die Not der Armen in Manchester. Er war nicht ohne Vorurteile (die Iren mochte er zum Beispiel nicht), doch keiner schrieb mit mehr Anteilnahme über das Leben in den viktorianischen Slums. In Die Lage der arbeitenden Klasse in England schilderte er, dass Menschen in »entsetzlichem Schmutz und Gestank« lebten, wo »Abfall, Unrat und Schmutz jeder Art aufgehäuft liegen, in Gärung und Fäulnis übergehen [...] so daß an solchen Orten Krankheiten sich erzeugten«. Er erzählte von einer Frau, deren beide kleine Jungen, frierend und am Rande des Hungertods, beim Essenstehlen erwischt worden waren. »Als der Polizeidiener zu ihr kam, fand er sie mit sechs ihrer Kinder in einem kleinen Hinterstübchen buchstäblich zusammengedrängt, ohne Möbel, ausgenommen zwei alte Binsenstühle ohne Boden, ein
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