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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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ganz im Geiste einer »menschenfreundlichen Entführung« von der Straße weg, und jedes Jahr wurden etwa fünfzehnhundert Jungen ohne viel Federlesens in die Kolonie Kanada verschifft, damit in den Heimen Platz für neue war.
    Als Barnardo 1905 starb, hatte er 250 000 Kinder aufgenommen. Der Organisation hinterließ er 250 000 Pfund Schulden eine Wahnsinnssumme.
    Bisher haben wir nur über arme Kinder gesprochen, doch reiche Kinder mussten ihre eigenen Torturen erleiden. Die hätten die hungernden Armen zwar sicher mit Kusshand erduldet, aber trotzdem waren es Torturen. Zum Beispiel mussten die Kinder lernen, ihre Emotionen zu unterdrücken und in einer Welt zu leben, in der Liebe nicht vorgesehen war. Fast vom Tage ihres Eintritts in die Welt erwartete man von Mittel- und Oberschichtkindern im viktorianischen Großbritannien Gehorsam, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Fleiß, Beherrschung seiner Gefühle und vor allem emotionale Selbstgenügsamkeit. Ein gelegentlicher Händedruck war der Gipfel an körperlicher Wärme, die man nach der Kleinkindzeit erwarten konnte. Das typische Heim der wohlhabenden Klassen im viktorianischen Großbritannien war, mit den Worten eines Zeitzeugen, eine Hochburg »kalter, strenger und entschieden unmenschlicher Zurückhaltung, die jedweden auch nur ansatzweise freundlichen, bedachtsamen, mitfühlenden Umgang miteinander ausschloss, der doch unter Familienangehörigen üblich sein sollte«.
    Reiche Kinder mussten die Drangsal der Charaktererziehung erdulden. Isabella Beetons Schwager Willy Smiles hatte elf Kinder, ließ den Frühstückstisch aber stets nur für zehn decken, damit keiner trödelte und zu spät zu Tisch kam. Gwen Raverat, Tochter eines Hochschullehrers in Cambridge, erinnerte sich als Erwachsene, wie sie immer Salz auf ihr tägliches Porridge streuen musste und nicht etwa die glitzernden Zuckermengen wie ihre Eltern bekam und dass sie keine Marmelade auf dem Brot essen durfte, weil etwas so Schmackhaftes ihrer Charakterstärke abträglich sei. Eine Zeitgenossin ähnlicher Herkunft entsann sich traurig des Essens, das ihr und ihrer Schwester während ihrer Kindheit serviert wurde: »Orangen gab es zu Weihnachten. Orangenmarmelade bekamen wir nie zu Gesicht.«
    Mit dem Zerstören der Geschmacksnerven ging ein eigentümlicher Respekt vor den charakterbildenden Kräften von Angst und Furcht einher. Extrem beliebt waren Bücher, die junge Leser darauf vorbereiteten, dass der Tod sie in jedem Moment holen könne, und wenn nicht sie, dann bestimmt Mama oder Papa, Lieblingsschwester oder Lieblingsbruder. Es wurde dabei stets betont, wie wunderbar es im Himmel sei (obwohl es offenbar auch dort keine Marmelade gab). Absicht war angeblich, den Kindern die Angst vor dem Sterben zu nehmen, doch man erreichte nur das Gegenteil.
    Manches literarische Werk sollte Kindern auch vermitteln, wie dumm und unverzeihlich es war, den Erwachsenen nicht zu gehorchen. In der bekannten »Gar traurigen Geschichte mit dem Feuerzeug« hört Paulinchen nicht auf das von den Katzen zitierte Verbot von Vater und Mutter, mit Streichhölzern zu spielen.
    Paulinchen hört die Katzen nicht! Das Hölzchen brennt gar hell und licht. Das flackert lustig, knistert laut, Grad wie ihr's auf dem Bilde schaut. Paulinchen aber freut sich sehr Und sprang im Zimmer hin und her.
    [..
    Doch weh! Die Flamme fasst das Kleid! Die Schürze brennt; es leuchtet weit. Es brennt die Hand, es brennt das Haar, Es brennt das ganze Kind sogar.
    Damit auch bloß keine Missverständnisse aufkamen, sahen die jungen Leser auf einer sehr anschaulichen Illustration, wie das Mädchen »lichterloh« brannte, auf dem Gesicht ein Ausdruck tiefster Verblüffung. Der Schluss der Geschichte geht wie folgt:
    Verbrannt ist alles ganz und gar, Das arme Kind mit Haut und Haar. Ein Häuflein Asche blieb allein Und beide Schuh, so hübsch und fein.
    Die tragische Ballade gehört zu einer Reihe von Langgedichten des deutschen Arztes Heinrich Hoffmann, der sie ursprünglich schrieb, um seine Kinder dazu anzuhalten, immer schön brav und vorsichtig zu sein. Seine Bücher waren sehr beliebt und wurden vielfach übersetzt (unter anderem von Mark Twain). Stets war das Muster gleich: Die Kinder wurden einer Versuchung ausgesetzt, der sie schwer widerstehen konnten, und bekamen dann demonstriert, wie schmerzhaft und unwiderruflich die Konsequenzen waren, wenn man ihr nachgab. Fast alles, was Kinder tun, nutzte Hoffmann als Gelegenheit zu erzieherischer

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