Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
und verformten Becken, und diese Unglücklichen waren überwiegend unter denen zu finden, die die bitterste Not litten. Ein Arzt im viktorianischen London veröffentlichte eine Liste der Dinge, mit denen, wie er selbst gesehen hatte, winzige Säuglinge gefüttert wurden: Kalbsfüße in Gelee, harte Muffins in Öl getränkt, knorpeliges Fleisch, das die Kinder nicht kauen konnten. Krabbelkinder (über)lebten bisweilen nur mit dem, was zu Boden fiel oder sie sonst wie ergattern konnten. Viele Kinder wurden mit sieben oder acht aus dem Haus gejagt, damit sie für sich selbst sorgten. In den 1860er Jahren gab es in London geschätzte einhunderttausend Straßenkinder, die keine Erziehung, keine Ausbildung, keine Gegenwart und keine Zukunft hatten. »Schon die pure Anzahl entsetzt einen«, berichtete ein Zeitgenosse.
Doch die Idee, sie zu bilden und auszubilden, war in breiten Kreisen der Gesellschaft absolut verpönt. Man befürchtete, wenn man den Armen zu einer Erziehung verhülfe, würden sie Ansprüche stellen, für die sie nicht das Zeug mitbrachten und auf die sie auch gar kein Recht hatten. Sir Charles Adderley, Ende der 1850er Jahre in der Regierung Lord Derbys mit staatlicher Erziehungspolitik befasst, sagte kategorisch: »Es ist erwiesenermaßen falsch, die einfachen Kinder der Arbeiterklasse über das Alter hinaus, in dem ihre richtige Arbeit beginnt, in der Schule zu behalten.« Täte man das, »wäre das so willkürlich und ungehörig, wie die Jungen in Eton und Harrow mit dem Spaten arbeiten zu lassen«.
Niemand vertrat solcherlei barbarische Ansichten besser als Pastor Thomas Robert Malthus (1766-1834), dessen Essay Das Bevölkerungsgesetz 1798 anonym publiziert wurde und sofort unglaublich Furore machte. Malthus schob den armen Massen selbst die Schuld an ihrer Misere zu und sprach sich vehement gegen Hilfe für sie aus. Sein Argument: Hilfe befördere nur deren Neigung zur Faulheit. »Selbst wenn sie die Möglichkeit haben, etwas zu sparen«, schrieb er, »tun sie das selten, denn alles, was sie nicht zu ihrer täglichen Notdurft brauchen, wandert gemeinhin ins Wirtshaus. Die Armengesetze in England, kann man deshalb behaupten, nehmen den einfachen Menschen sowohl die Kraft als auch den Willen zu sparen und untergraben damit einen der stärksten Anreize zu Nüchternheit und Fleiß und folglich zum Glück.« Besonderen Unmut hegte Malthus gegenüber den Iren; er fand, wie er 1817 einem Freund schrieb, »dass ein großer Teil dieses Volkes vom Erdboden getilgt werden sollte.« Von ausgeprägter christlicher Nächstenliebe war dieser Mann weiß Gott nicht beseelt.
Infolge der verheerenden Lebensbedingungen war die Sterblichkeitsrate überall dort extrem hoch, wo Arme zusammengepfercht lebten. Wer um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geboren wurde, hatte in der mittelenglischen Industriestadt Dudley eine durchschnittliche Lebenserwartung von 18,5 Jahren, eine Lebensspanne, so gering wie seit der Bronzezeit nicht mehr. Selbst dort, wo bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen herrschten, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung lediglich zwischen sechsundzwanzig und achtundzwanzig Jahren. In keiner einzigen britischen Stadt überstieg sie dreißig.
Wie stets litten die Jüngsten am meisten, doch danach krähte kein Hahn. Kaum etwas verrät wohl mehr über das Leben in Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert als die Tatsache, dass der Tierschutzverein sechzig Jahre früher gegründet wurde als eine ähnliche Organisation zum Schutz der Kinder und dass die erstgenannte Vereinigung 1840, etwas mehr als eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer Gründung, »royal« wurde, während der Nationale Kinderschutzbund des Segens der Monarchin bis heute entbehren muss.
II.
Gerade als die Armen Englands dachten, viel schlimmer könne es für sie nicht mehr werden, wurde es schlimmer. Ursache waren die Verabschiedung und rigorose Durchsetzung der neuen Armengesetze aus dem Jahr 1834. Armenfürsorge war immer ein heikles Thema gewesen. Was den wohlhabenderen Viktorianern keine Ruhe ließ, war nicht die traurige Lage der Armen, sondern waren eventuell entstehende Kosten. Hilfe für Arme gab es seit Elisabethanischen Zeiten, doch es oblag der Entscheidung der einzelnen Gemeinden, wie sie sie gestalteten. Manche waren einigermaßen großzügig, andere so herzlos, dass sie Kranke oder Frauen in den Geburtswehen in eine andere Gemeinde trugen, damit diese die juristische Verantwortung übernehmen musste. Uneheliche Geburten
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