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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Beginn der 1860er Jahre nach London, weil er Arzt werden und als Missionar nach China gehen wollte. Dorthin kam er nie. Er wurde auch nie Arzt. Sondern entwickelte ein missionarisches Interesse an obdachlosen kleinen Jungen (zum Schluss auch Mädchen) und eröffnete mit geborgtem Geld sein erstes Heim in Stepney in Ostlondon.
    Barnardo war ein brillanter Selbstdarsteller und führte eine ungeheuer erfolgreiche Werbekampagne mit »Vorher-Nachher«-Fotos der Kinder durch, die er rettete. Die »Vorher«-Fotos zeigten schmuddelige (und oft spärlich bekleidete), verwahrloste Kinder mit mürrischen Mienen, die »Nachher«-Fotos sauber Geschrubbte, hellwach und strahlend vor Freude über die christliche Rettung. Die Kampagne wurde so erfolgreich, dass Barnardo seine Aktivitäten bald in viele Richtungen ausdehnte. Er gründete Krankenhäuser, Heime für taubstumme Kinder, Heime für obdachlose Schuhputzer und vieles mehr. Der Slogan über dem Heim in Stepney lautete: »Hier wird keinem Kind in Not der Einlass verwehrt«. Das war ungewöhnlich nobel, und viele Leute hassten Barnardo deswegen. Denn die nicht an Bedingungen geknüpfte Aufnahme von Jungen verstieß natürlich gegen Geist und Buchstaben der Armengesetze von 1834.
    Wegen seines grenzenlosen Machtstrebens geriet Barnardo in Konflikt mit einem Missionarskollegen, Frederick Charrington. Der Spross einer steinreichen Brauereifamilie aus dem East End war sozusagen über Nacht zur Missionarsarbeit gekommen. Er war aus einer Kneipe aus dem Besitz der Charrington-Brauerei getreten und hatte gesehen, wie ein Betrunkener davor seine Frau verprügelte, weil sie ihn angefleht hatte, ihr ein wenig Geld zu geben, damit sie ihren hungrigen Kindern etwas zu essen kaufen konnte. Von Stund an wurde Charrington Abstinenzler, verzichtete auf sein Erbe und begann unter den Armen zu arbeiten. Da er die Mile End Road, wo er große Zeltmissionen abhielt, als seinen persönlichen Machtbereich ansah, war er beleidigt, als Barnardo seine Absicht kundtat, dort ein Abstinenzlercafe zu eröffnen, und begann eine gnadenlose Rufmordkampagne gegen ihn. Mit Hilfe eines Wanderpredigers namens George Reynolds (der bis kurz zuvor Gepäckträger bei der Eisenbahn gewesen war) verbreitete er Gerüchte, Barnardo habe über seine Herkunft gelogen, führe seine Heime nicht ordentlich, schlafe mit seiner Vermieterin und täusche die Öffentlichkeit mit falschen Anzeigen. Zusätzlich deutete er zart an, dass Barnardos Heime Brutstätten der Sodomie, Trunksucht, Erpressung und anderer Laster aller-übelster Sorte seien.
    Das war schlecht für Barnardo, denn ein unangenehm großer Teil dieser Anschuldigungen traf zu. Barnardo log wirklich gern und machte alles nur noch schlimmer, als er nun mit ungeschickten Lügen antwortete. Als man ihm vorwarf, er nenne sich zu Unrecht Arzt — nach einem Gesetz von 1858 ein ziemlich ernsthaftes Vergehen —, zeigte er das Zeugnis einer deutschen Universität vor, das sich umgehend als miserable Fälschung herausstellte. Außerdem kam heraus, dass viele »Vorher-Nachher«-Fotos von geretteten Kindern »retuschiert« waren. Natürlich waren die Fotos immer von vorn bis hinten gestellt gewesen und zeigten die Kinder in kunstvoll zerrissener Kleidung, die viel reizvolles Fleisch enthüllte. Aber nun wurden sie von vielen Kritikern so interpretiert, als appellierten sie an niedrigste, abartigste Instinkte. Selbst Barnardos treueste Anhänger sahen ihre Loyalität auf eine harte Probe gestellt. Sie mussten sich im Übrigen nicht nur Sorgen um seinen Charakter und seinen guten Ruf, sondern auch um seine horrenden Schulden machen. Denn obwohl einer der unverrückbaren Grundsätze der Plymouth-Brüder unbedingte Sparsamkeit war, lieh sich Barnardo große Summen, um noch mehr Missionsstationen zu eröffnen.
    Schlussendlich befand man ihn für schuldig, Fotos gefälscht und sich den Arztberuf angemaßt zu haben, doch von den schwerwiegenderen Anklagen wurde er freigesprochen. Ironischerweise war das Leben in einem Heim Barnardos kaum reizvoller als in einem der gefürchteten Arbeitshäuser. Die Insassen wurden um 5.30 Uhr morgens geweckt und mussten bis 18.30 Uhr arbeiten, dazwischen hatten sie kurze Pausen für Mahlzeiten, Gebete und ein wenig Schulunterricht. Abends gab es militärischen Drill, noch mehr Unterricht und noch mehr Beterei. Wer bei einem Fluchtversuch erwischt wurde, wanderte in Einzelhaft. Barnardo ließ den Kindern oft auch keine freie Wahl, sondern kidnappte sie

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