Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Grausamkeit. In der »Geschichte vom Daumenlutscher« ermahnt die Mutter Konrad, nicht am Daumen zu lutschen, wenn sie kurz fortgeht, denn:
Der Schneider mit der Scher Kommt sonst ganz geschwind daher, Und die Daumen schneidet er Ab, als ob Papier es wär.
Leider hört der Knabe nicht auf den guten Rat seiner Erziehungsberechtigten und muss erleben, dass in Hoffmanns Welt die Strafe auf dem Fuße folgt und unerbittlich vollstreckt wird.
Fort geht nun die Mutter und, Wupp, den Daumen in den Mund.
Bautz, da geht die Türe auf, Und herein in schnellem Lauf Springt der Schneider in die Stub Zu dem Daumen-Lutscher-Bub. Weh! Jetzt geht es klipp und klapp, Mit der Scher die Daumen ab, Mit der großen scharfen Scher! Hei! Da schreit der Konrad sehr!
Als die Mutter kommt nach Haus, Sieht der Konrad traurig aus. Ohne Daumen steht er dort, Die sind alle beide fort.
Ältere Kinder fanden Hoffmanns Gedichte vielleicht lustig, doch kleinere müssen sie in Angst und Schrecken versetzt haben — was ja auch beabsichtigt war —, insbesondere, da sie mit drastischen Bildern einhergingen, auf denen Kinder in Flammen stehen und zu einem Häuflein Asche verbrennen oder ihnen das Blut dort herausspritzt, wo sich vorher nützliche Körperglieder befanden.
Reichere Kinder waren oft vollkommen hilflos der Dienerschaft und deren persönlichen Marotten ausgeliefert. Der zukünftige Lord Curzon, der als Sohn eines Pfarrers in Derbyshire aufwuchs, wurde jahrelang von einer, wie es scheint, psychotischen Gouvernante terrorisiert, die ihn stundenlang auf einem Stuhl festband oder in einem Schrank einschloss, den Nachtisch von seinem Essenstablett aß, ihn zwang, in Briefen Vergehen zu gestehen, die er nie begangen hatte, und ihn in einem lächerlichen Kittel und mit einem Schild um den Hals durchs Dorf trieb, auf dem »LÜGNER«, »DIEB« oder sonst ein Schimpfwort stand, das er nicht verdiente, weil er nichts verbrochen hatte. Traurnatisiert von diesen Erfahrungen konnte er erst als Erwachsener darüber sprechen. Nicht ganz so schlimm, aber auch entsetzlich, waren die Erlebnisse des zukünftigen sechsten Earl of Beauchamp, der in den Klauen einer Gouvernante war, die sich als religiöse Fanatikerin herausstellte. Sie zwang ihn, jeden Sonntag sieben Gottesdienste zu besuchen und in der Zeit dazwischen Aufsätze über die unendliche Güte des Vaters im Himmel zu verfassen.
Für viele war das Martyrium der frühen Kindheit aber nur ein leichtes Warm-up für das anstrengende Leben in der Public School. Selten ist wohl im neunzehnten Jahrhundert mit mehr Begeisterung Härte praktiziert worden als in den englischen Public Schools. Vom Moment ihrer Ankunft an wurden die Schüler brutalen Maßnahmen unterworfen: kalte Bäder, häufige Züchtigung mit dem Rohrstock und Entzug von Essen, das ohnehin weder appetitlich noch sättigend war. Die Jungs im Radley College in der Nähe von Oxford litten so systematisch Hunger, dass sie schließlich Blumenzwiebeln im Schulgarten ausgruben und sie zum Essen über Kerzen in ihren Zimmern toasteten. In Schulen, wo es keine Blumenzwiebeln gab, aßen die Jungen die Kerzen. Der Romancier Alec Waugh, Bruder von Evelyn Waugh, ging zu einer Prep School namens Fernden, die die Ideale des Sadismus einzigartig hingebungsvoll hochhielt. An seinem ersten Tag dort wurden seine Finger in einen Topf mit Schwefelsäure getaucht, damit er nicht die Nägel kaute, und kurz danach musste er eine Schüssel mit Griespudding leer essen, in die er sich gerade erbrochen hatte, eine Erfahrung, die seine Liebe zu Griespudding verständlicherweise für den Rest seines Lebens dämpfte.
Auch alles andere war auf einer Privatschule kein Zuckerschlecken. Auf Bildern von Schlafsälen aus dem neunzehnten Jahrhundert sieht man, dass diese sich kaum von den entsprechenden Räumen in Gefängnissen und Arbeitshäusern unterschieden. Sie waren oft so kalt, dass das Waschwasser in Krügen und Schüsseln über Nacht gefror. Betten waren kaum mehr als Lattenroste, weich und warm hatte man es bestenfalls, wenn man ein paar grobe Decken bekam. In Westminster und Eton wurden jeden Abend etwa fünfzig Jungen in riesigen Sälen eingeschlossen und bis zum Morgen unbeaufsichtigt gelassen. Manchmal mussten Jungen aus den unteren Klassen mitten in der Nacht aufstehen und Schuhe putzen, Wasser holen und alle sonstigen Aufgaben erledigen, die vor dem Frühstück zu erledigen waren. Kein Wunder, dass Lewis Carroll als Erwachsener sagte, nichts auf der Welt
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