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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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könne den Wunsch in ihm wecken, seine Schulzeit noch einmal zu erleben.
    Viele Jungen wurden jeden Tag gezüchtigt, manche sogar zweimal. Nicht bestraft zu werden war ein Grund zum Feiern. »Letzte Woche war ich viel besser in Mathematik und habe nicht einmal die Rute bekommen«, schrieb zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ein Junge aus Winchester glücklich nach Hause. Züchtigungen bestanden über Jahrhunderte im Allgemeinen aus drei bis sechs Schlägen aus dem Lauf mit einer peitschenähnlichen Rute, doch bisweilen ging es mit weit mehr Gewalt zur Sache. 1682 wurde in Eton ein Direktor entlassen, nachdem er einen Jungen totgeschlagen hatte. Eine erstaunliche Anzahl junger Männer entwickelte Geschmack am Zischen der herabsausenden Rute und dem stechenden Schmerz — und zwar so sehr, dass die Franzosen Lustpeitschen als »le vice anglais« (englisches Laster) bezeichneten. Zumindest zwei Premierminister aus dem neunzehnten Jahrhundert, Melbourne und Gladstone, waren begeisterte Flagellanten, und eine Mrs. Collet führte ein Bordell in Covent Garden, das auf Sex mit Schlägen spezialisiert war.
    Vor allem anderen aber erwartete man von der nachwachsenden Generation, dass sie tat, was ihr gesagt wurde, und zwar auch, wenn sie schon längst volljährig war. Eltern behielten sich das Recht vor, Ehepartner auszusuchen, sich in die Berufwahl einzumischen, ja selbst Lebensweise, politische Überzeugung, Kleidungsstil und vieles andere mehr zu beeinflussen. Und gern strichen sie dem Nachwuchs auch das Geld, wenn ihren Befehlen nicht gehorcht wurde. Mayhew, der Sozialreformer, wurde enterbt, als er sich den Anweisungen seines Vaters widersetzte und nicht Anwalt wurde. Das gleiche Schicksal ereilte, einen nach dem anderen, sechs seiner sieben Brüder. Nur der siebente wollte gern Anwalt werden (oder vielleicht auch nur den Familiensitz haben), qualifizierte sich pflichtbewusst als solcher und bekam das ganze Erbe. Die Dichterin Elizabeth Barren wurde enterbt, weil sie Robert Browning ehelichte, der nicht nur arm wie eine Kirchenmaus war, sondern — o Schreck! — auch noch Enkel eines Kneipenbesitzers. Die entsetzten Eltern von Alice Roberts enterbten ihre Tochter, als sie stur darauf beharrte, den armen Sohn eines römisch-katholischen Klavierstimmers zu heiraten. Zum Glück für Miss Roberts war es der zukünftige Komponist Edward Elgar und machte sie auch so reich.
    Bisweilen führten weit banalere Überlegungen zur Enterbung. Der zweite Lord Townshend, der sich schon seit Jahren über das unmännliche Verhalten seines Filius ärgerte, strich ihn ohne viel Federlesens aus dem Testament, als der unselige Jüngling eines Tages mit rosafarbenen Schuhbändern ins Zimmer spazierte. Viel geredet wurde auch über den sechsten Duke of Somerset, der als «der stolze Herzog« bekannt war und von seinen Töchtern immer verlangte, in seiner Gegenwart zu stehen. Als er einmal vom Mittagsschläfchen erwachte und eine sitzend erwischte, enterbte er das undankbare Ding angeblich.
    Erschütternd, ja deprimierend ist es oft, wie rasch Eltern nicht nur die finanziellen Mittel, sondern ihre Zuneigung entzogen. Elizabeth Barren und ihr Vater hatten ein sehr enges Verhältnis zueinander, doch als sie sich von der Eheschließung mit Robert Browning nicht abhalten ließ, brach Mr. Barren sofort jeglichen Kontakt zu ihr ab. Und obwohl sie einen Mann geheiratet hatte, der begabt und angesehen, und die Ehe eine echte Liebesheirat war, sprach er nie wieder mit seiner Tochter und schrieb ihr auch nie. In der obskuren Welt viktorianischer Eltern war Gehorsam weitaus wichtiger als Zuneigung und Glück, und diese merkwürdige, für viel Leid sorgende Einstellung hielt sich in den meisten begüterten Häusern bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein.
    So gesehen, schufen die Viktorianer die Kindheit nicht, sondern schafften sie ab. Freilich ist die Sache komplizierter. Dadurch, dass man den Kindern Liebe vorenthielt, wenn sie jung waren, aber dann deren Leben bis weit in das Erwachsenenalter hinein zu bestimmen versuchte, ergab sich eine merkwürdige Konstellation: Die Kindheit wurde gleichzeitig erstickt und ewig verlängert. Kein Wunder eigentlich, dass das Ende des viktorianischen Zeitalters mit dem Beginn der Psychoanalyse zusammenfiel.
    Den Eltern die Stirn zu bieten war ein solches Tabu, dass die meisten Kinder, auch als Erwachsene, darauf verzichteten. Charles Darwin illustriert das perfekt. Als man ihm die Möglichkeit bot, die Reise

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