Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
mit Darwins Kindern und ging in Darwins Haus ein und aus. Da er sich für die Naturgeschichte interessierte, mochte ihn der große Mann sehr. Die beiden verbrachten viele Stunden zusammen in Darwins Arbeitszimmer und schauten sich — jeder durch sein Mikroskop — Präparate an. Als Darwin wieder einmal an Depressionen litt, war der junge Lubbock der einzige Besucher, den er empfing.
Als Erwachsener folgte Lubbock seinem Vater ins Bankgeschäft, doch sein Herz hing an der Naturwissenschaft. Er experimentierte unermüdlich, wenn auch ein wenig exzentrisch. Einmal versuchte er drei Monate lang, seinem Hund das Lesen beizubringen. Als sein Interesse für die Archäologie aufkeimte, lernte er Dänisch, weil Dänemark damals in dem Bereich führend war. Weil er sich außerdem sehr für Insekten interessierte, hielt er ein Bienenvolk in seinem Wohnzimmer, um dessen Gewohnheiten besser studieren zu können. 1886 entdeckte er die Pauropoda, die Wenigfüßer, aus der Familie der winzigen und bis dato unbekannten Milben, die in unserem Kapitel über »Haustiere« vorkamen. Da viele Milben, wie wir ja gesehen haben, erst Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von der Wissenschaft zur Kenntnis genommen wurden, war die Entdeckung einer Familie davon 1886 eine beachtliche Leistung, vor allem für einen Banker, der sich nur abends und an Wochenenden mit den naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigen konnte. Nicht weniger beachtlich waren Lubbocks Studien der Variabilität der Nervensysteme bei Insekten, mit der sich Darwins Idee der »Abstammung mit Modifikation« beweisen ließ.
Aber Lubbock war nicht nur Banker und begeisterter Insektenkundler, sondern auch ein hervorragender Archäologe, Mitglied des Kuratoriums des Britischen Museums, Parlamentsabgeordneter, Vizekanzler (und damit Chef) der London University und Autor populärer Bücher und noch vieles andere mehr. Als Archäologe prägte er die Begriffe »paläolithisch (altsteinzeitlich), »mesolithisch (mittelsteinzeitlich) « und »neolithisch (jungsteinzeitlich) « und war einer der Ersten, die das praktische neue Wort »Vorgeschichte« benutzten. Als Politiker und Mitglied des Parlaments für die Liberale Partei wurde er außerdem zum Fürsprecher der arbeitenden Bevölkerung. Er brachte Gesetze zur Reduzierung der Arbeitsstunden in Läden auf zehn Stunden am Tag ein und drückte 1871 — buchstäblich im Alleingang — den Bank Holidays Act durch, ein Gesetz, das die atemberaubende Idee hatte, dass Arbeiter bezahlte nichtkirchliche Feiertage bekamen.*
Der Jubel allüberall war groß. Vor Lubbocks neuem Gesetz durften die meisten Lohnabhängigen am Karfreitag, am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag (aber so gut wie nie an beiden) und an Sonntagen der Arbeit fernbleiben, und damit hatte es sich. Ein zusätzlicher arbeitsfreier Tag — noch dazu im Sommer war zu schön, um wahr zu sein. Lubbock war nach allgemeiner Meinung der beliebteste Mann in England, und »Bank holidays« hießen lange liebevoll »St. Lubbock's days«. Keiner hätte sich damals wohl vorstellen können, dass sein Name eines Tages vergessen sein würde.
In unserem Zusammenhang ist Lubbock wegen einer weiteren Neuerung wichtig: wegen des Denkmalschutzes beziehungsweise der Denkmalpflege. 1872 erfuhr er von einem Pfarrer im ländlichen Wiltshire, dass ein großer Teil von Avebury, einem uralten Steinkreis, der erheblich größer, aber nicht so malerisch war wie Stonehenge, wegen Bebauung abgerissen werden sollte. Lubbock kaufte das bedrohte Land zusammen mit zwei anderen in der Nähe gelegenen Altertümern, dem West Kennet Long Barrow (ein Hügelgrab) und Silbury Hill, einem enorm hohen, ebenfalls menschengemachten Grabhügel, dem größten in Europa.
Doch er konnte natürlich nicht alles, was bedroht war, vor der Zerstörung bewahren und drängte auf eine Gesetzgebung, mit der historische Stätten geschützt werden konnten. Das zu erreichen war nicht halb so einfach, wie der gesunde Menschenverstand meint, denn die herrschenden Tories unter Benjamin Disraeli sahen es als unerhörten Angriff auf Eigentumsrechte an. Der Gedanke, dass ein staatlicher Beamter befugt sein sollte, das
* Der Name »Bank holiday« war allerdings komisch, und Lubbock erklärte eigentlich nie, wie er darauf gekommen war. Schließlich hätte er ihn einfach »Staatsfeiertag« oder »Arbeitsfeiertag« oder sonst wie nennen können. Manchmal wird gesagt, der »Bank holiday« sei ursprünglich nur für Bankangestellte gedacht
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