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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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zwei Drittel der Fracht zu einer duftenden Pampe verrottet. Produzenten in entlegeneren Ländern konnten nicht einmal auf einen solchen Erfolg hoffen. Die Argentinier hielten auf ihren endlos weiten Pampas riesige Rinderherden, aber wie sie das Fleisch verschiffen sollten, wussten sie nicht. Also kochten sie Knochen und Talg der Viecher aus und warfen das Fleisch weg. Der deutsche Chemiker Justus Liebig entwickelte zwar eine Formel für Fleischextrakt, um ihnen zu helfen, doch das eigentliche Problem war damit immer noch nicht gelöst.
    Man brauchte unbedingt eine Methode, um Nahrungsmittel länger frisch zu halten, als es die Natur erlaubte. Ende des achtzehnten Jahrhunderts verfasste ein Franzose namens François Appert (vielleicht auch Nicolas Appert, die Quellenlage ist verwirrend) ein Buch mit dem Titel Die Kunst alle animalischen und vegetabilischen Substanzen nähmlich alle Gattungen Fleisch, Geflügel, Wildpret, Fische, Zugemüse, Kuchen — Arzneygewächse, Früchte, Sulzen, Säfte; ferner Bier, Kaffeh, Thee u. s. w. in voller Frische, Schmackhaftigkeit und ei genthümlicher Würze mehrere Jahre zu erhalten. Und er schaffte tatsächlich einen Durchbruch. Seine Methode bestand im Wesentlichen darin, Lebensmittel in Gläsern dicht zu verschließen und sie dann langsam zu erhitzen. Die Methode funktionierte im Allgemeinen auch sehr gut, doch mit der Versiegelung klappte es nicht immer, und Luft und Verunreinigungen drangen ein, was diejenigen, die den Inhalt trotzdem verzehrten, in heftige Magen-Darm-Bedrängnisse brachte. Da man Apperts Gläsern nicht hundertprozentig vertrauen konnte, blieb eine gewisse Vorsicht beim Verzehr angeraten.
    Kurzum, bis Essen den Weg auf den Tisch fand, konnte vieles schiefgehen. Als also Anfang der 1840er Jahre ein Wunderprodukt daherkam, dass alles zu verändern versprach, war die Aufregung groß. Dabei kannte man es gut: Eis.
    II.
    Im Sommer 1844 eröffnete die Wenham Lake Ice Company nach einem See in Massachusetts benannt — ein Ladenlokal am Strand in London und stellte dort jeden Tag einen frischen Eisblock ins Schaufenster. Noch nie hatte man in England einen derartig großen Eisblock gesehen — jedenfalls nicht im Sommer, nicht mitten in London —, und auch keinen, der so glatt und klar war. Man konnte eine Zeitung hindurch lesen. Und eine solche wurde auch immer hinter dem Block aufgehängt, damit die Leute selbst sehen und staunen konnten. Das Schaufenster war die Sensation und ständig von Zuschauern belagert.
    Thackeray erwähnt Eis von Wenham in einem Roman; Königin Victoria und Prinz Albert bestanden darauf, dass es auch im Buckingham Palast benutzt wurde, und verliehen der Firma die königliche Urkunde für Hoflieferanten. Viele Leute dachten, der Wenham-See sei ein riesiges Gewässer, etwa so groß wie der Michigansee oder ein anderer der Großen Seen, doch der englische Geologe Charles Lyell wollte es genau wissen und fuhr, als er sich auf einer Vortragsreise befand, von Boston aus extra dorthin, was gar nicht so einfach war. Fasziniert davon, wie langsam das Wenham-Eis schmolz, vermutete er, es habe etwas mit seiner berühmten Reinheit zu tun, doch es schmolz genauso schnell oder langsam wie jedes andere Eis. Außer dass es so weit gereist war, war absolut nichts Besonderes dran.
    Eis aus einem See war ein wunderbares Produkt. Es entstand von selbst, also ohne dem Hersteller Kosten zu verursachen, war sauber, unbegrenzt erneuerbar und bei den entsprechenden Temperaturen stets vorrätig. Nur leider gab es weder entsprechende 'Transport- noch Lagerungsmöglichkeiten und auch noch keinen Markt, auf dem man es hätte verkaufen können. Um eine Eisindustrie ins Leben zu rufen, musste man Verfahren entwickeln, wie man es in großen Mengen schneiden und heben konnte, man musste Lagerhäuser bauen, Handelsrechte erwerben, eine verlässliche Anzahl von Spediteuren und Zwischenhändlern rekrutieren und vor allem eine Nachfrage nach Eis an Orten schaffen, an denen man selten oder nie Eis gesehen hatte und deshalb ganz bestimmt gewillt war, dafür Geld hinzulegen. Der Mann, der das alles schaffte, war aus guter Bostoner Familie und liebte Herausforderungen. Er hieß Frederic Tudor, und die Vermarktung von Eis als Massenware wurde ihm zur fixen Idee.
    Eis aus Neuengland zu fernen Häfen zu verschiffen galt als vollkommen verrückt — ein Zeitgenosse nannte es gar die »Grille eines gestörten Hirns«. An der ersten Schiffsladung nach Großbritannien rätselten dann auch

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