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Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Titel: Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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die Zollbeamten zwecks Klassifizierung der Ware so lange herum, dass die dreihundertTonnen geschmolzen waren, bevor man sie aus dem Hafen abtransportieren konnte. Reeder waren höchst unwillig, es als Fracht zu akzeptieren. Die erniedrigende Erfahrung, mit einer Handvoll nutzlosem Wasser in einen Hafen einzulaufen, fanden sie wenig reizvoll, doch realer war die Gefahr, dass die Tonnenlast sich verschieben und das hin- und herschwappende Schmelzwasser ihre Schiffe zum Kentern brachte. Ihre seefahrerischen Instinkte waren schließlich darauf gerichtet, Wasser aus dem Schiff zu halten, da wollten sie sich ungern auf ein derart spleeniges Unternehmen einlassen, zumal am Ende desselben nicht einmal ein sicherer Absatzmarkt wartete.
    Tudor war ein seltsamer, schwieriger Mann — »herrisch, eitel, verächtlich gegenüber Konkurrenten und unversöhnlich gegenüber Feinden«, meint der Historiker Daniel J. Boorstin. Der Mann aus Boston verprellte seine engsten Freunde und missbrauchte gnadenlos das Vertrauen von Kollegen. Fast alle technologischen Neuerungen, die den Eishandel möglich machten, waren im Übrigen das Werk seines zurückhaltenden, gutwillig langmütigen Partners Nathaniel Wyeth. Tudor kostete es Jahre und sein gesamtes Familienvermögen, um das Eisgeschäft in Gang zu bringen, doch allmählich hatte es Erfolg und machte ihn und viele andere reich. Mehrere Jahrzehnte lang war das Eis vom Gewicht her das zweitgrößte Handelsprodukt der Vereinigten Staaten. Gut isoliert hielt es sich überraschend lange. Es überstand sogar die Fahrt von sechzehntausend Seemeilen von Boston nach Bombay, die einhundertdreißig Tage dauerte, das heißt, es überstand sie zu wenigstens zwei Dritteln, die aber reichten, um Gewinn mit dem Trip zu machen. Eis wurde in die entlegensten Ecken Südamerikas verschifft und von Neuengland nach Kalifornien über Kap Horn. Sägemehl, bis dato ohne jeden Wert, erwies sich als hervorragendes Isoliermaterial und verschaffte den Sägewerken in Maine zusätzliche Einnahmen.
    Der Wenham-See spielte nur noch eine sehr nebensächliche (tolle, als der Eishandel der Vereinigten Staaten boomte. Aus ihm gewann man nie mehr als etwa zehntausend Tonnen Eis im Jahr, im Vergleich zu etwa einer Million Tonnen jährlich aus dem Kennebec River in Maine. In England redete man mehr über Wenham-Eis, als dass man es tatsächlich verbrauchte. Ein paar I firmen ließen es sich regelmäßig liefern, Haushalte (außer, wie erwähnt, dem königlichen) jedoch kaum. Ab den 1850er Jahren war das meiste in England verkaufte Eis nicht von Wenham und auch nicht aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Norwegen. I )ie Norweger, normalerweise kein Volk, bei dem einem als Erstes gerissene Geschäftspraktiken einfallen, hatten nämlich den Oppegaard-See bei Oslo in Wenham-See umbenannt und sich lukrative Marktanteile gesichert. Allerdings muss man sagen, dass die Briten das Eis nie so richtig lieben lernten. Selbst heute noch wird es im Vereinigten Königreich oft verkauft, als sei es verschreibungspflichtig. Der eigentliche Markt, stellte sich heraus, war in den Vereinigten Staaten selbst.
    Gavin Weightman weist in seiner Geschichte des Eisgeschäfts, !)er Handel mit gefrorenem Wasser, darauf hin, dass die US-Amerikaner Eis wie kein anderes Volk liebten. Sie benutzten es als liebersenkendes Mittel, kühlten damit Bier und Wein, verwendeten es in köstlichen eiskalten Cocktails und einem ungeheuren Spektrum anderer gefrorener Gaumenfreuden. Besonders beliebt wurde Eiskrem — und was für originelle Sorten man erfand! In dem berühmten New Yorker Restaurant Delmonico's konnten die Gäste unter vielen frappierenden Geschmacksrichtungen Pumpernickel-Roggeneis und Spargeleis bestellen. Die Stadt NewYork allein konsumierte fast eine Million Tonnen Speiseeis im Jahr. Brooklyn schlotzte 334 000 Tonnen weg, Boston 380 000, Philadelphia 377 000. Die US-Amerikaner wurden ungeheuer stolz auf die Kulturleistung Eis. »Wann immer Sie hören, dass man schlecht über einen Amerikaner redet«, sagte ein solcher zu seiner britischen Besucherin Sarah Maury, »denken Sie an das Eis.«
    Richtig zeigen, was in ihm steckte, konnte das Eis bei der Kühlung von Güterwagen, denn nun ließen sich endlich Fleisch und andere verderbliche Waren von Küste zu Küste transportieren. Chicago wurde zu dem Eisenbahnknotenpunkt, unter anderem, weil man dort riesige Mengen Eis erzeugen und lagern konnte. Manche Eishäuser in Chicago fassten bis zu 250 000

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