Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
diese Gewinne werden in die Fabrik zurück investiert, was wiederum für neue Gewinne sorgt, die erneut in die Fabrik gesteckt werden, was die Gewinne weiter steigen lässt, und so weiter bis zum jüngsten Tag. Die Gewinne lassen sich auf unterschiedliche Weise investieren: in den Ausbau der Fertigungsanlage, in die wissenschaftliche Forschung oder in die Entwicklung neuer Produkte. Doch alle Investitionen müssen in irgendeiner Form zur Produktions- und Gewinnsteigerung beitragen. In der neuen kapitalistischen Religion lautet das erste und wichtigste Gebot: »Du sollst die Gewinne aus der Produktion in die Steigerung der Produktion investieren.«
Deshalb heißt er ja auch »Kapitalismus«. Kapital ist nämlich etwas ganz anderes als bloßer Reichtum. Kapital besteht aus Geld, Gütern und Ressourcen, die in die Produktion investiert werden. Reichtum wird dagegen verbuddelt oder verprasst. Ein Pharao, der seinen Staatsschatz in den Bau einer unproduktiven Pyramide steckt, ist kein Kapitalist. Ein Pirat, der eine spanische Galeone überfällt und eine Kiste voller Goldmünzen am Strand einer Karibikinsel vergräbt, ist kein Kapitalist. Aber ein Hilfsarbeiter einer Fabrik, der einen Teil seines sauer verdienten Lohns in Aktien anlegt, ist ein Kapitalist.
Der Gedanke, dass die Gewinne aus der Produktion in die Steigerung der Produktion investiert werden müssen, mag banal klingen. Trotzdem war er den Menschen lange Zeit fremd. Vor Beginn der Neuzeit glaubten sie, die Produktion sei mehr oder weniger konstant, weshalb es sinnlos war, Gewinne in die Produktion zurück zu investieren: Egal was wir anstellen, die Produktion steigt ohnehin nicht. Daher lebten die mittelalterlichen Adeligen nach einer Ethik der Großzügigkeit und des Geltungskonsums. Sie gaben ihre Einnahmen für Turniere, Bankette, Paläste und Kriege oder für Wohltätigkeiten und den Bau von Kathedralen aus. Nur wenige versuchten, ihre Gewinne zu investieren, um die Erträge ihrer Landgüter zu steigern, bessere Weizensorten zu züchten oder neue Märkte zu erschließen.
Mit Beginn der Neuzeit wurde der Adel von einer neuen Elite abgelöst, deren Angehörige wahre Gläubige der kapitalistischen Religion waren. Diese neue Elite bestand nicht aus Grafen und Baronen, sondern aus Aufsichtsratsvorsitzenden, Aktienhändlern und Industriellen. Diese Magnaten sind reicher als der mittelalterliche Adel, aber anders als ihre verschwenderischen Vorgänger haben sie weniger Interesse daran, ihr Geld zur Schau zu stellen, und verprassen nur einen kleinen Teil ihrer Gewinne.
Die Adeligen des Mittelalters trugen farbenprächtige, mit Silber und Gold bestickte Roben und verbrachten ihre Zeit mit Banketten, Kostümfesten und prunkvollen Turnieren. Moderne Unternehmensvorstände tragen dagegen langweilige Uniformen namens »Anzüge«, in denen sie ungefähr so farbenprächtig aussehen wie ein Krähenschwarm, und haben wenig Zeit für Kostümfeste oder Bankette. Der typische Investor eilt von einem Geschäftstermin zum nächsten, um geeignete Geldanlagen aufzuspüren und das Auf und Ab seiner Aktien zu verfolgen. Er trägt zwar einen Anzug von Versace und reist in einem Privatjet, doch diese Ausgaben sind nichts im Vergleich zu den Summen, die er in die Produktionssteigerung investiert.
Aber nicht nur die Unternehmer in Versace-Anzügen investieren in die Produktion. Selbst relativ arme Menschen halten die Augen nach den besten Investitionen offen und diskutieren beim Abendessen darüber, ob sie ihre wertvollen Ersparnisse lieber in Aktien oder in Immobilien anlegen sollen. Auch Staaten wollen ihre Steuereinnahmen in produktive Unternehmungen stecken, die zusätzliche Einnahmen bringen. Die einen bauen Hafenanlagen, um die Exporte und damit die künftigen Steuereinnahmen zu steigern. Andere investieren in die Bildung, weil gut ausgebildete Bürger produktiver sind und mehr Steuern zahlen, die sich wieder in das Schulsystem investieren lassen.
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Der Kapitalismus begann als eine Theorie, die das Funktionieren der Wirtschaft erklärte. Doch die Theorie beschrieb nicht nur, sie bot auch eine Anleitung. Und allmählich wurde aus der Theorie auch eine Religion mit eigenen Verhaltensregeln. Der wichtigste Glaubenssatz des Kapitalismus besagt, dass Wirtschaftswachstum das höchste Gut ist, oder dass es zumindest stellvertretend für das höchste Gut steht, denn Gerechtigkeit, Freiheit und sogar Glück hängen vom Wachstum ab. Fragen Sie doch einmal spaßeshalber einen
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