Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
Traditionen zu zerstören und durch ständig wechselnde Moden zu ersetzen. Doch das reichte noch nicht aus. Um die Macht der Familie und der Gemeinschaft zu brechen, benötigten sie die Unterstützung einer fünften Kolonne.
Also lockten Staat und Markt die Menschen mit einer Verheißung, der sie nicht widerstehen konnten. »Du kannst ein freier Menschen werden«, versprachen sie. »Du kannst heiraten, wen du möchtest, ohne deine Eltern um Erlaubnis fragen zu müssen. Du kannst jede Arbeit annehmen, die dir gefällt, auch wenn es den Dorfältesten nicht passt. Du kannst leben, wo immer du willst, auch wenn du nicht jeden Sonntag zum großen Familienessen nach Hause kommen kannst. Du bist nicht länger von deiner Familie und deiner Gemeinschaft abhängig. Wir, der Staat und der Markt, kümmern uns schon um dich. Wir geben dir Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Bildung, Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit.«
In der romantischen Literatur erscheint das Individuum oft als jemand, der sich Staat und Markt widersetzt. Mit der Wirklichkeit hat dies nichts zu tun. Staat und Markt sind Vater und Mutter des Individuums, und das Individuum kann nur dank ihrer Hilfe überleben. Der Markt bietet Arbeit, der Staat ein soziales Netz und Pension. Wenn wir studieren wollen, sind die staatlichen Schulen und Universitäten für uns da. Wenn wir ein Unternehmen gründen wollen, geben uns die Banken Kredit. Wenn wir ein Haus bauen wollen, beauftragen wir ein Bauunternehmen und nehmen auf der Bank eine Hypothek auf, die vom Staat garantiert wird. Wenn es zu Gewalt und Ausschreitungen kommt, schützt uns die Polizei. Wenn wir ein paar Tage krank sind, übernimmt die Krankenversicherung die Arztkosten. Wenn wir monatelang arbeitsunfähig sind, springt die Sozialversicherung ein. Wenn wir rund um die Uhr gepflegt werden müssen, suchen wir auf dem Arbeitsmarkt eine Pflegekraft – in der Regel eine Fremde aus einem anderen Land, die uns mit einer Hingabe versorgt, die wir von unseren eigenen Kindern nicht mehr erwarten. Wenn wir die Mittel dazu haben, können wir unsere besten Jahre in einem Altenwohnheim verbringen. Das Finanzamt behandelt uns als Individuen und geht nicht davon aus, dass wir die Steuern unseres Nachbarn bezahlen. Auch die Gerichte behandeln uns als Individuen und bestrafen uns nicht für etwas, das unser Cousin verbrochen hat.
Nicht nur erwachsene Männer, sondern auch Frauen und Kinder werden als Individuen anerkannt. In der Vergangenheit galten Frauen oft als Eigentum der Familie oder der Gemeinschaft. In modernen Staaten gelten Frauen jedoch zunehmend als Individuen, die unabhängig von der Familie und der Gemeinschaft wirtschaftliche Freiheiten und Rechte genießen. Sie können über ihr eigenes Bankkonto verfügen, ihre Partner frei wählen und sich sogar scheiden lassen oder allein leben.
Dieser Individualismus fordert jedoch seinen Tribut. Er hat Familie und Gemeinschaft geschwächt und Staat und Markt gestärkt. Letztere können leichter in unser Leben eingreifen, wenn wir nicht mehr starken Familien und Gemeinschaften angehören, sondern vereinzelt und entfremdet leben. Wenn sich die Nachbarn in einem Mietshaus nicht einmal darauf einigen können, wie viel sie einem Hausmeister bezahlen wollen, wie sollen sie sich dann dem Staat widersetzen?
Dieser Handel zwischen Staaten, Märkten und Individuen ist oft unbefriedigend. Staat und Markt können sich nicht auf ihre Rechte und Pflichten einigen, und die Individuen beklagen, dass beide zu viel verlangen und zu wenig bieten. Oft werden die Individuen von den Märkten ausgebeutet, und Staaten setzen ihre Armeen, Polizeikräfte und Behörden ein, um die Individuen zu verfolgen, statt sie zu beschützen. Trotz aller Mängel und Schwächen funktioniert der Handel. Erstaunlicherweise, denn er verstößt gegen eine gesellschaftliche Ordnung, die seit undenklichen Zeiten Bestand hatte, und läuft sogar der menschlichen Evolution zuwider. Über Jahrmillionen hinweg haben wir gelernt, als Angehörige einer Gemeinschaft zu denken. Innerhalb von nur zwei Jahrhunderten haben wir uns in entfremdete Einzelwesen verwandelt. Es gibt wohl kaum einen besseren Beweis für die Macht der Kultur.
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Die Kernfamilie verschwand allerdings nicht völlig aus der modernen Landschaft. Als Staaten und Märkte der Familie ihre wirtschaftliche und politische Rolle weitgehend nahmen, ließen sie ihr einige wichtige emotionale Funktionen. Die moderne Familie soll nach wie vor die
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