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Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)

Titel: Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yuval Noah Harari
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intimen Bedürfnisse befriedigen, die Staat und Markt (bislang) nicht abdecken können. Doch auch die Kernfamilie ist zunehmend Einmischungen von außen ausgesetzt. Der Markt greift immer mehr in die Gestaltung unseres Liebes- und Sexuallebens ein. Während früher die Familie die wichtigste Partnervermittlung war, übernimmt diese Rolle heute der Markt, indem er erst unsere sexuellen Wünsche prägt und uns dann hilft, sie zu erfüllen – gegen eine happige Gebühr, versteht sich. Früher lernten sich Braut und Bräutigam im elterlichen Wohnzimmer kennen, und das Geld wanderte von der Hand des einen Vaters in die des anderen. Heute spielen sich die Paarungsrituale im Café ab, und das Geld wandert von der Hand des hoffnungsfrohen Paars in die Schürze der Kellnerin.
    Auch der Staat nimmt die familiären Beziehungen immer stärker unter die Lupe, vor allem die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Eltern müssen ihre Kinder auf eine Schule schicken, auf der sie vom Staat erzogen werden. Eltern, die ihre Kinder körperlich oder psychisch misshandeln, können vom Staat gemaßregelt werden. Notfalls kann der Staat die Eltern sogar einsperren und die Kinder in eine Pflegefamilie geben. Früher wäre allein der Gedanke, dass der Staat die Eltern daran hindern sollte, ihre Kinder zu schlagen, vollkommen absurd erschienen. Respekt und Gehorsam gegenüber den Eltern galten lange als oberste Tugenden. Die Eltern konnten tun und lassen, was sie wollten, sie konnten ihre Neugeborenen töten, ihre Kinder in die Sklaverei verkaufen und ihre Töchter mit steinalten Männern verheiraten.
    Heute befindet sich die Autorität der Eltern jedoch überall auf dem Rückzug. Neue Lebensweisheiten, Psychotherapeuten und Gesetzgeber entbinden Kinder heute der Gehorsamspflicht gegenüber ihren Eltern, und so mancher Fünfzigjährige sucht die Schuld für das eigene Versagen und Fehlverhalten bei den Eltern. Vor dem Freudschen Tribunal haben Mama und Papa genauso gute Aussichten auf einen Freispruch wie die Angeklagten in einem stalinistischen Schauprozess.
    Erfundene Gemeinschaften
    Ähnlich wie die Kernfamilie ist auch die Gemeinschaft nicht gänzlich aus unserem Leben verschwunden. Da sich der Mensch über Jahrmillionen hinweg als Herdentier mit dem Bedürfnis nach Stammesbeziehungen entwickelt hatte, konnte die Gemeinschaft nicht einfach verschwinden, ohne dass ein emotionaler Ersatz an ihre Stelle trat. Markt und Staat befriedigen heute die meisten materiellen Bedürfnisse, die einst die Gemeinschaft übernahm, aber sie müssen auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedienen.
    Das tun sie durch »erfundene Gemeinschaften«, die aus Millionen von Menschen bestehen und perfekt auf die Anforderungen von Markt und Staat zugeschnitten sind. Dabei handelt es sich um Gemeinschaften, deren Angehörige einander nicht kennen, sich aber zu kennen glauben. Königreiche, Imperien und Religionen funktionierten schon seit Jahrtausenden als erfundene Gemeinschaften. Abermillionen von Chinesen sahen sich als Angehörige einer einzigen Familie, deren Vater der Kaiser war. Abermillionen gläubiger Muslime stellten sich vor, sie seien alle Brüder und Schwestern in der großen Gemeinschaft des Islam. Doch in der Vergangenheit spielten diese erfundenen Gemeinschaft immer nur die zweite Geige, viel wichtiger waren die intimen Beziehungen in kleinen Gruppen von Menschen, die einander gut kannten. Diese kleinen Gemeinschaften befriedigten die emotionalen Bedürfnisse ihrer Angehörigen und waren entscheidend für das Überleben und Wohlergehen aller. In den letzten zwei Jahrhunderten sind diese intimen Gemeinschaften verschwunden, und in die emotionale Lücke sprangen die erfundenen Gemeinschaften.
    Die zwei wichtigsten Beispiele für den Aufstieg der erfundenen Gemeinschaften sind die »Nation« und die »Verbraucher«. Die Nation ist die erfundene Gemeinschaft des Staates. Die Verbraucher sind die erfundene Gemeinschaft des Marktes. Beide sind erfundene Gemeinschaften, weil sich die Teilnehmer des Marktes und die Angehörigen einer Nation natürlich nie alle kennenlernen können, so wie sich in der Vergangenheit die Bewohner eines Dorfs kannten. Kein Deutscher kann ein intimes Verhältnis zu den 80 Millionen deutschen Staatsbürgern unterhalten, geschweige denn zu den 500 Millionen Verbrauchern des Gemeinsamen Marktes der Europäischen Union.
    Die Religionen des Konsumismus und Nationalismus arbeiten auf Hochtouren, um uns einzureden, dass wir mit

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