Eine kurze Geschichte der Menschheit (German Edition)
zwischen Menschen und anderen Wesen, es gibt auch keine Hierarchie. Die nicht-menschlichen Wesen sind nicht nur dazu da, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Sie sind auch keine allmächtigen Götter, die die Welt ganz nach ihrem Gutdünken lenken. Die Welt dreht sich weder um den Menschen noch um irgendein anderes Wesen.
7. Ausschnitt einer 15000 bis 20000 Jahre alten Zeichnung aus der Lascaux-Höhle. Was genau sehen wir hier, und was bedeutet diese Zeichnung? Einige Wissenschaftler behaupten, es handele sich um einen Mann mit Vogelkopf und erigiertem Glied, der von einem Bison getötet wird. Unter dem Mann befindet sich ein weiterer Vogel. Dieser Vogel sei die Seele des Mannes, die im Moment des Todes den Körper verlässt. Die Szene stelle keinen einfachen Jagdunfall dar, sondern den Übergang der Seele von einer Welt in die nächste. Wir werden jedoch nie wissen, ob diese Spekulationen stimmen oder nicht. Es handelt sich um eine Art Rohrschach-Test, der mehr über die Vorurteile der modernen Wissenschaftler aussagt als über die Glaubensvorstellungen der steinzeitlichen Jäger und Sammler.
Animismus ist keine spezifische Religion. Es handelt sich vielmehr um einen Überbegriff für Tausende verschiedene Religionen, Kulte und Glaubensvorstellungen, die sich untereinander ganz erheblich unterscheiden können. Das Gemeinsame ist ihre Sicht der Welt und der Rolle des Menschen in ihr. Wenn wir sagen, dass die meisten Jäger und Sammler Animisten sind, dann besagt das nicht mehr als die Aussage, dass die meisten Bauern Theisten sind. Theismus ist die Vorstellung, dass die Ordnung der Welt auf einem hierarchischen Verhältnis zwischen den Menschen und einer kleinen Gruppe von körperlosen Wesen namens Göttern basiert. Es stimmt zwar, dass die meisten bäuerlichen Gesellschaften an Götter glauben, aber das sagt noch nichts über die genauen Inhalte der Religion aus. Unter dem Oberbegriff »Gottesglauben« finden sich die jüdischen Rabbiner aus dem Polen des 18. Jahrhunderts genauso wieder wie die hexenjagenden Puritaner aus dem Massachusetts des 17. Jahrhunderts, die Aztekenpriester aus dem Mexiko des 15. Jahrhunderts, die Sufi-Mystiker aus dem Iran des 12. Jahrhunderts, die Wikinger des 10. Jahrhunderts, die römischen Legionäre des 2. Jahrhunderts und die chinesischen Bürokraten des 1. Jahrhunderts. Zwischen den Glaubensvorstellungen und Praktiken dieser Gruppen liegen Welten, und genauso groß waren vermutlich die Unterschiede zwischen den religiösen Vorstellungen der verschiedenen Jäger und Sammler-Kulturen. Es kann gut sein, dass sie nicht nur sehr verschiedene Religionen hatten, sondern dass jede einzelne Religion auch ihre Richtungsstreitigkeiten, Reformen und Revolutionen kannte.
8. Jäger und Sammler hinterließen diese Abdrücke vor rund 9000 Jahren in der »Höhle der Hände« in Argentinien. Es wirkt, als würden uns diese längst verstorbenen Menschen aus dem Fels heraus die Hände reichen wollen. Es handelt sich um eines der bewegendsten Zeugnisse aus der alten Welt der Wildbeuter. Leider weiß niemand, welchen Sinn diese Zeichnungen hatten.
Über diese vorsichtigen Verallgemeinerungen hinaus können wir leider nur sehr wenig sagen. Jeder Versuch, die religiösen Vorstellungen der Jäger und Sammler detaillierter zu beschreiben, wäre pure Spekulation, da wir kaum Beweise haben und sich die wenigen Indizien – eine Handvoll Gegenstände und bruchstückhafte Höhlenmalereien – in tausenderlei Weise interpretieren lassen. Wenn Wissenschaftler trotzdem Theorien aufstellen, dann verraten diese oft mehr über ihre eigenen Sehnsüchte und Vorurteile als über die Religionen der Steinzeit.
Statt auf der Grundlage von einigen Grabbeigaben, Höhlenzeichnungen und Knochenfigürchen hochfliegende Theoriegebäude zu errichten, sollten wir ehrlich zugeben, dass wir nur sehr ungefähre Vorstellungen von den Religionen der steinzeitlichen Jäger und Sammler haben. Wir nehmen zwar an, dass sie Animisten waren, doch auch das sagt noch reichlich wenig aus. Wir wissen nicht, welche Geister sie anriefen, welche Feste sie feierten oder welche Tabus sie einhielten. Vor allem wissen wir nicht, welche Mythen sie sich erzählten. Es ist eine der größten Lücken in unserem Verständnis der menschlichen Geschichte.
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Auch über die sozio-politischen Verhältnisse in der Zeit der Jäger und Sammler wissen wir so gut wie nichts. Wie wir gesehen haben, können sich Wissenschaftler nicht einmal in
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